Sunday, October 19, 2008

Ein Brief um Abschied

Aus Jerusalem, der Heiligen Stadt
Am 6. September, dem ersten Freitag im Ramadan


Lieber Jürgen,
Vielen Dank für Deine aufmunternden Worte für meinen Abschied aus der Heiligen Stadt. Du setzt die Heilige Stadt in Anführungszeichen und schreibst in Klammern, immer noch hieltest Du an diesem Titel fest. Dazu hatte ich Dich zwar meinerseits nie ermuntert. Aber jetzt will ich darauf eingehen.

Zuerst schulde ich Dir Dank! Du hast mich auch dieses Jahr treu begleitet, bist mir auf meinen Wegen und zu den Begegnungen in Bethlehem und seinen umliegenden Dörfern und in Yanoun, dem kleinen Bergdorf gefolgt. Du hast mir geholfen, die kleinen Schrecken des Alltags und das große Entsetzen über die Folgen der Besetzung Palästinas für beide, Besetzte und Besatzer, zu reflektieren und zu ertragen. So warst Du mit mir in Bethlehem und in Yanoun. Und immer waren wir zwischendurch auch in Jerusalem, wo unser Büro ist und wo ich auch eingesetzt wurde, wenn kein anderer da war. Das war oft eine zusätzliche Last, vor allem für die Seele. Denken wir also, weil es Dir ja um die „Heilige Stadt“ ging, an Jerusalem.
"Der Lastenträger von Jerusalem", Bild von Sliman Mansour

In Jerusalem musste ich Hausabrisse und Vertreibung von Familien begleiten. Aber ich hatte auch Zeit, mich durch die Stadt zu bewegen, zu sitzen und auf jemanden zu warten, Teil der Menschen zu werden, die in Jerusalem leben oder sie als Ziel einer Reise erleben, als Geschäftsleute, Pilger oder Touristen. Und dann wieder die Beobachtung von Hausabrissen, von Besetzung und Raub dieser Häuser durch jüdische Siedler und Vertreibungen. Was für eine schreckliche Aufgabe! Und was für ein Abschied jetzt, zu sehen, dass sich in den drei Jahren, in denen ich diese Aufgabe wahrnehme, nichts verändert, nichts verbessert hat und dass der Mut, an eine gerechte Lösung zu glauben, gesunken ist, vor allem bei Palästinensern. Sie haben begriffen, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Die Welt sieht und sieht doch nicht, aber sie gewöhnt sich an die Zustände in Palästina und Israel. Und sie lässt das Übel gewähren. So sehen die Palästinenser das. Und halten immer noch daran fest, dass Jerusalem ihre Heilige Stadt und Palästina ihr Land ist, ein magisches Land, geschaffen für Träume und Visionen.
"Eine Frau trägt Jerusalem", Bild von Sliman Mansour

Ich stehe auf der Dachterrasse des Hotels, in dem ich die letzten zwei Nächte verbringe. Die Stadt ist nur an ihren Lichtern zu erkennen, ganz nah der so genannte Davidsturm, rundum die alte Festungsmauer aus der Glanzzeit des Osmanischen Reiches, die Altstadt mit ihren Türmen und Kuppeln, im Westen die neue jüdische Stadt und weiter an den Rändern die Siedlungen, die die Sieger der vergangenen Kriege in das ehemalige Umland gelegt haben. Dort waren früher die Dörfer der Palästinenser. Was immer man sieht, in dieser Nacht und in allen Nächten hier, es ist von diesem traumatischen Szenario bestimmt: Die Sieger übernehmen rund um die palästinensische Stadt Land um Land und mitten in ihr Haus um Haus. Es ist ihre Heilige Stadt, die Stadt unter dem Heiligen Zion. Sie haben ein Gesetz und danach ist Jerusalem die ungeteilte Hauptstadt Israels auf ewig.

Heute ist der erste Freitag im Fastenmonat. Vor vier Tagen hat der Ramadan begonnen. Ein Freitag im Fastenmonat bietet allen Muslimen im Land die Möglichkeit, ihrer Pflicht nachzukommen und in der Al Aqsa Moschee oder auf dem großen Platz vor ihr, dem Haram as-Sharif zu beten. Viele haben ihre festlichen Kleider an, weiße Gewänder und die weißem Keffiyas der Männer, die die Hadsch, die Pilgerreise nach Mekka gemacht haben. Die Frauen tragen festliche, bunt bestickte Kleider und schöne, weite Kopftücher. Es ist ein Festtag. Keine Verkäufer von Gebäck, Kaffee und Zigaretten stehen hier heute. Essensgerüche, Wasserflaschen, Zigarettenschachteln sind verbannt. Alle fasten den hellen Tag lang. Das Gebet an diesem Freitag und ganz und gar an diesem Freitag in der oder vor der Al Aqsa Mosche ist der Höhepunkt der Fastenwoche, es bedeutet tausendmal mehr, als ein gewöhnliches Gebet zu Hause. Aus dem ganzen Land kommen sie. Frühmorgens um fünf Uhr stehen die ersten vor den Toren – nicht vor den Toren der Stadt, soweit kommen nicht alle – sondern vor den Checkpoints. Hier haben Militär und Grenzpolizei sich vorbereitet und haben eine Absperrung vor der Sperranlage, hier der 12 Meter hohen Mauer, gebaut. Dort stehen die Soldaten, auf umliegenden Dächern sind ihre Scharfschützen und sind Maschinengewehre postiert. Jeeps sind so abgestellt, dass die schmalen Eingänge zwischen den Betonblocks, durch die Männer und Frauen getrennt und einzeln durch gelassen werden, geschlossen werden können. Die Soldaten lassen nur Männer über 50 und von den Jüngeren nur die mit Sondergenehmigung für Religiöse Zwecke durch. Drinnen, im Checkpoint werden die Männer noch zweimal kontrolliert, auf Leib und Gepäck und auf ihre Papiere. Die frommen Männer nehmen das auf sich, das Warten und die Kontrolle dauern teilweise bis zu zwei Stunden, aber das sei wesentlich besser als im vergangenen Jahr, sagen die Beobachter. Die Frauen über 45 und die zwischen 35 und 45 mit der „Religiösen Genehmigung“ dürfen den neu geschaffenen Eingang, das dritte Tor durch die Mauer benutzen, dessen Bau wir in den vergangenen Monaten mit der Sorge beobachtet haben, ob das nur für Touristen oder auch für Frauen, Kinder und Kranke geöffnet werden wird. Die Frauen müssen auch nicht in den Terminal hinein. Sie werden nur einmal, „manuell“ von Soldatinnen kontrolliert und dann am Terminal vorbei zur Straße geleitet, wo die Busse wieder stehen, mit denen sie angereist waren. Dort stehen sie, beunruhigt, die meisten kennen dieses Geschäft an den Checkpoints nicht. Sie warten auf ihre Männer, die hoffentlich durch gelassen werden… Dann fahren sie gemeinsam nach Al Quds, „Der Fernen“, wie die Stadt in der muslimischen Tradition heißt. Sie ist die dritte der Heiligen Städte, nach Mekka und Medina. Al Quds, wohin der Prophet Mohamed in einer seiner nächtlichen Visionen versetzt worden war und wo ihn der Engel Gabriel direkt in den offenen Himmel gebracht hatte. Al Quds ist für die Palästinenser die natürliche Hauptstadt und für alle Araber und alle Muslime die unaufgebbare Heilige Stadt.

Heute hatte ich kein Frühstück, weil ich zu früh schon das Hotel verlassen musste. Aber gestern war ich noch im Knights Palace. Mein Gegenüber am Frühstückstisch, den ich unschwer als Pilger aus Down-Under, Queensland in Australien, wie er dann erklärte, erkannte, erzählte von seiner Pilgerreise im Heiligen Land. Er war aber, ohne sich das klar zu machen, nur in Israel gewesen. Für 2 Stunden war seine Pilgergruppe mit dem Bus über die Grenze nach Bethlehem gefahren. Es ging ganz leicht, keine 5 Minuten mussten wir warten und die Soldaten waren sehr höflich, erzählte er. Er fragte auch, was ich denn hier mache und hat kurz zugehört, aber verstanden hat er das nicht. Das Heilige Land lag einfach und zugänglich vor ihm: Die Via Dolorosa, die Grabeskirche in Jerusalems Altstadt, Nazareth, der Berg der Verklärung, der See Genezareth – das alles hatte er in wenigen Tagen gesehen. Palästinensischen Christen war er dabei kaum begegnet, der Führer war ein Israeli und die Priester, die die Pilgerandachten für sie gehalten hatten, waren Englischsprachig, erinnerte er sich. Er hatte das Heilige Land der Christen gesehen, dem Islam und Judentum war seine Reisegruppe nicht begegnet. Dafür müsse man bestimmt eine längere Reise buchen, gab er zu. Aber die Hauptsache, die Heiligen Stätten, die hätten sie doch gesehen.

Heute Abend werde ich eine Freundin in Westjerusalem besuchen. In der Synagoge nicht weit von ihrem Haus war ich schon zweimal, sie ist orthodox und gleichzeitig politisch aufgeschlossen, aber Männer und Frauen sitzen noch getrennt. Unsere Gastgeberin geht gern in eine andere, ganz kleine Synagoge, wo diese Trennung aufgehoben ist. Zusammen mit einem Kollegen aus unserem Begleitprogramm werden wir bei ihr das Sabbatmahl einnehmen. Wir werden deutsch sprechen, denn sie ist Deutsche, vor vielen Jahren ins Land gekommen und zum Judentum konvertiert. Nach dem Besuch wird Zeit sein, die Nachtstunden des Sabbat an der Klagemauer zu erleben, wo Tausende von Frommen aus Jerusalem, besonders aus Mea Schearim, dem Stadtviertel der „Religiösen“, wie diese meist ganz in Schwarz Gekleideten von ihren säkularen Mitbürgern genannt werden, hineilen werden. Einzelne Männer, Familien, Gruppen von Jugendlichen werden still oder singend und tanzend durch die Tore der Altstadt ziehen. Die Muslime und Christen ziehen sich dann zurück. Diese Nachtstunden zwischen Freitag und Samstag gehören den Juden. Die Altstadt ist voll von ihrem Gedränge. Touristen und Pilger, werden dann, falls sie nicht ohnehin in ihren Hotels sind, an den Rand gedrängt oder angerempelt, wenn sie nicht Platz machen. An der Klagemauer herrscht feierliche Stimmung. Jerusalem, die Stadt Davids, die Stadt des Ersten und des Zweiten Tempels ist auf ihre jüdische Mitte, die Klagemauer konzentriert.

Zwischen meinem morgendlichen Einsatz am Checkpoint und meinem Besuch im jüdischen Jerusalem hatte ich Zeit – nicht nur diesen Brief anzufangen – sonder für einen Spaziergang in der Altstadt. Ich habe eine Künstlerwerkstatt für Keramik besucht. Es ist schön, sich die großen Schalen und Vasen, die kleinen Gegenstände und Kacheln anzuschauen. Anders als die Läden, die überall in den Souks Andenken und Gebrauchskeramik mit Motiven Jerusalems anbieten, ist hier alte armenische Kunst zu sehen. Kräftige Farben und uralte Motive, die die Armenier mitgebracht hatten, als sie vor hunderten Jahren in diese Provinz des Osmanischen Reiches kamen, schmücken die Schalen, Vasen und Kacheln. Eine Kachel hat mir gefallen, weil sie die Skyline von Jerusalem, wie ich finde, mystisch überhöht darstellt: die Hurva Synagoge (noch als Ruine), Grabeskirche und Erlöserkirche, das Minarett zwischen den beiden und den Felsendom mit der goldenen Kuppel. Man kriegt das sonst kitschig in allen Varianten. Hier hat mir gefallen, dass die armenische Farbenpracht das ganze in eine unwirkliche, paradiesische Ebene verlegt. Die Stadt Gottes, die er vom Himmel herablassen wird. Heilig wird sie sein, wo die Menschen heute noch ihre eigene Geschichte, ihre Schmerzen und ihre Träume entheiligen. Wo sie mit Stiefeln, mit Turnschuhen oder Sandalen ihren Wünschen und Wegen folgen.

Die Heiligkeit einer solchen Vision, wie der auf der armenischen Kachel, kann ich gerne annehmen. Sie zeigt die Stadt Gottes, nicht der Menschen, wie Gott sie vorgibt und wie sie das Treiben der Menschen zum Guten wenden könnte. Diese Vision hilft mir, die Hoffnung auf ein Ende der Angst, ein Attentäter könnte sich unter die Betenden mischen, ein Ende der Angst, die Mauern und Scharfschützen braucht, ein Ende der Ohnmacht, mit der die Verlierer der Kriege Israels hier ihre Ansprüche erheben und ein Ende der Ignoranz, mit der christliche Pilger tote Steine in diesem Land anbeten und ein Ende der Besitzansprüche,– sie hilft mir, die Hoffnung auf ein Ende dieser heillosen Zeit zu bewahren.

Also, mein lieber Freund, Du hast noch in der kommenden Woche Geburtstag. Und dies hier ist mein Gruß für Dich. Die Kachel nehme ich mit auf meinen Heimweg. Wir werden uns bald sehen, aber Du sollst auch wissen, dass Du mich auf meinem letzten Gang durch die Stadt begleitet hast. Ich werde noch ein paar Fotos machen und Dir mitschicken – von der „Heiligen Stadt“, wie Du nicht lassen kannst, zu sagen.

Salaam maleikum! Und Shabbat Shalom! wie man ab heute Abend hier sagen wird! Friede sei mit Dir, wie die Anfänger unseres christlichen Glaubens sich noch begrüßt und verabschiedet haben!
Dein Gottfried