Sunday, June 22, 2008

Nachts am Kontrollpunkt

Zwei Uhr dreißig
Samuel steht jeden Morgen um zwei Uhr auf und geht zum Kontrollpunkt, zum Grenzübergang zwischen Bethlehem und Jerusalem. Er will unbedingt unter den ersten sein wenn das Tor geöffnet wird. Wenn er kommt, sitzen schon ein halbes Dutzend oder mehr Männer vor dem Eingang der Kontrollanlage. Sie haben sich Kartons mitgebracht, zum Teil neben den Müllbehältern aufgelesen, darauf sitzen sie, zwei von ihnen haben sich auf Pappe gelegt und mit Pappe zugedeckt, es sieht aus wie ein Pappsarg. Darunter schlafen sie. Aber sie werden unter den ersten sein, die um fünf Uhr in die Kontrollanlage eingelassen werden. Es ist ruhig um diese Zeit. Die großen Lichtstrahler, die 9 Meter höher oben auf der Mauer angebracht sind, sind noch nicht eingeschaltet. Und der Wind, der vor Sonnenaufgang aufkommen wird, ist auch noch still. Alle paar Minuten kommen mehr Männer, setzen sich oder lehnen sich an die stählernen Gitterstäbe, die hier den 300 Meter langen Käfig bilden, durch den die Männer jeden Morgen geschleust werden. Ab und zu leuchtet ein Feuerzeug auf und Zigarettenrauch weht herüber.

Samuel
Samuel wohnt in einem Dorf nahe bei Herodion, südöstlich von Bethlehem. Es ist zu weit, um jeden Tag mit dem Taxi zu fahren, viel zu früh für eine Buslinie. So schläft Samuel bei einem Bruder in Bethlehem und läuft jede Nacht zum Kontrollpunkt. Seine Familie sieht er, wenn es gut geht, nur am Wochenende. Er hat keine feste Arbeit. Er muss sich an die große Kreuzung in die Gilo-Siedlung stellen und warten, ob ihn jemand für den Tag anheuert. Wie lange steht er dort? Bis 9 Uhr, danach hat er keine Chance mehr, angeheuert zu werden. Und dann fährt er auch nicht gern nach Hause, weil er der Familie kein Geld und nichts zu essen bringen kann. Hat er eine Arbeitserlaubnis? Ja, aber die läuft am Ende der Woche ab. Danach, hofft er, kriegt er eine neue, beantragt ist sie schon; aber es wird schwer, weil er keinen festen Arbeitsplatz hat. Samuel hat drei Kinder, einen Jungen und zwei Mädchen. Der Junge bereitet sich auf die Oberschule vor. Wenn er es schafft, kann die Familie in einigen Jahren auf ein besseres Einkommen hoffen.

Die Frauen
Samuel ist sicher nicht allein mit dieser Geschichte. Aber er kann Englisch und kann uns deshalb seine Geschichte erzählen. Unterdessen ist es 3 Uhr 25 und die ersten Frauen kommen durch die Gitterschleuse zum Eingang. Sie setzen sich innerhalb der Mauer, in den kleinen Raum, der zwischen Mauer und dem ersten Durchgang liegt. Hier wird später der Wind noch kräftiger wehen, aber Frauen halten sich in der Regel von Männern getrennt auf. Sie kommen jetzt schon, weil sie später kaum eine Chance haben, sich durch die Reihen der Männer zu schlängeln, die dann dicht gedrängt in dem etwa einen Meter breiten Gang stehen. Frauen müssen vorgelassen werden, sie dürfen nicht in eine Situation gebracht werden, wo Männer sie berühren. Na – und das ist in diesem Kontrollpunkt schwer durchzusetzen. Gegen vier Uhr dreißig werden es etwa 15 Frauen sein, danach haben sie etwa eine Stunde lang keine Chance mehr, durch diesen schmalen Schleuse durchzukommen. Fünf Minuten nach vier Uhr kommt ein Soldat und befiehlt den Frauen, diesen Raum diesseits der Mauer zu verlassen. Sie ziehen sich still ein bisschen zurück, einige argumentieren mit dem Soldaten. Der merkt irgendwann, dass er sich nicht durchsetzen kann und zieht sich zurück. Die Frauen setzen sich wieder auf ihren Karton, still, um keinen Anlass für die Durchsetzung der Forderung zu geben.
Wir stehen auf der Bethlehemer Seite der Mauer. Auch hier ist das Schleusengitter etwas verbreitert und bisher ist es auch hier ruhig. Unten, wo der Gang beginnt und die neutrale Beschilderung „Eingang“ angebracht ist, wird es lauter. Taxis kommen an und die Männer fangen an zu streiten.

Das Morgengebet
Aber ich muss einige Minuten zurückgehen, um von dem Gebet zu erzählen. Schon viertel nach drei Uhr hatte ich einen Mann gesehen, der zwischen den Sitzenden aufgestanden war, um sein Gebet zu beginnen. Später, drei Uhr fünfundfünfzig, mit den Rufen der Muezzin von den nahen Minaretten Bethlehems, stehen alle Männer auf. Sie beginnen das Gebet, jetzt gemeinsam. Sie reinigen symbolisch Augen und Ohren, gehen auf die Knie und beugen sich nach vorn, der schmale Gang erlaubt es nicht, mit der Stirn den Boden zu berühren. Sie verharren, ich höre aus der Mitte des umgitterten Gangs einen Vorbeter singen, dann antworten die Männer, singen gemeinsam. Sie legen die Hände auf die Knie und beugen sich vor, nach Süden, in Richtung Mekka. Es ist eindrucksvoll. Es gibt in diesen Minuten nichts anderes als dieses konzentrierte gemeinsame Gebet. Der mit einem Stahlzaun geschlossene und mit Stacheldraht und schwarzer Schmiere gesicherte Gang ist angefüllt von Betenden. Der letzte Ruf des Vorbeters verklingt, die Männer setzen sich, einige Zigaretten werden angezündet. Unten beginnt das Gerangel und schlimmer: Die ersten jungen Männer kommen, gehen an dem Gitter-Gang vorbei nach vorne, klettern über die Stahlgitter und springen zwischen die Wartenden. Die dort Wartenden schreien und schimpfen, aber noch nie habe ich gesehen, dass einer auch nur die Hand erhoben, geschweige denn geschlagen hätte. Und doch ist dieser Kampf zwischen denen, die früh kommen und brav anstehen und den anderen, die sich auf diese Weise vordrängen, unschön und ein schwer erträglicher Kontrast zu dem Gebet.

Fünf Uhr
Unterdessen ist ein kalter Wind aufgekommen. Der Nachthimmel im Osten zeigt Schwächen, die Sterne werden dort blasser. Wir frieren richtig. Aber wir haben eine Ecke besetzt, zwischen Mauer und der Gittertür, wo das Gedrängel uns nicht erreicht. Die Unruhe und die Kampfstimmung um die vorderen Plätze werden jetzt unerträglich. Wir sehen, dass Samuel vorn an der Drehtür steht. Die Frauen lehnen an dem Gitter, dicht bei der Drehtür, die Männer werden sie bevorzugt durchlassen. Punkt fünf Uhr erscheint der Soldat in der Kabine aus Beton und kugelsicherem Glas, er schaltet den Monitor und die Drehtürkontrolle ein, das Licht draußen vor der Mauer und über der Drehtür leuchtet das grüne Lämpchen auf.
Nach zehn Minuten sind auch wir durch die Drehtür gegangen und auf dem Rückweg. Wir müssen diesen ersten Teil der Kontrollanlage hinter uns bringen, um uns gleich hinter der Kabine wieder nach links zu wenden und den Ausgang zu nehmen. Wir laufen den ganzen, von wartenden Männern gefüllten Käfig-Gang, auch hier getrennt durch die zweieinhalb Meter hohen Stahlgitter, hinunter. Viele der Männer, die uns kennen, sehen uns fragend an: Wir haben euch heute gar nicht kommen sehen? Unten begrüßen uns die Händler hinter ihren Tischen oder kleinen Handkarren; einige von ihnen hatten halb drei Uhr morgens schon ihre Stände aufgebaut und uns begrüßt. Jetzt bedanken sie sich und bieten uns Kaffee an, umsonst! Sie erklären den Umstehenden, dass wir schon nachts gekommen seien, weil wir unsere Aufgabe, sie hier moralisch zu unterstützen, so ernst nähmen. Für drei oder fünf Minuten, die wir stehen bleiben und uns unterhalten, auch unsere arabischen Begrüßungsworte hersagen, ist hier eine freundliche, fast euphorische Stimmung.

Wir sind durchgefroren und müde und schämen uns, dass wir uns zuhause hinlegen können, während die Männer hier noch bis zu zwei Stunden Warten vor sich haben und dann ihren Arbeitstag.

Nachtrag
Eine Woche später. Die Leiterinnen unseres Programms kritisieren, dass ich keine Fotos von den Männern gemacht habe, die im Käfig schlafen und beten. Für die Dokumentation wäre das wichtig gewesen. Also mache ich mich heute auf Sonntag den 22. Juni 2008, und gehe noch einmal nachts zum Kontrollpunkt. Nach den ersten Fotos hört die Kamera auf und will neue Batterien. Der Kaffeeverkäufer, Ameen, hat Batterien, aber nicht die richtigen. Er hilft mir, einen Taxifahrer zu finden, der mich zu unserer Wohnung und wieder zum Kontrollpunkt fährt. Ich mache meine Fotos, einige Männer wollen nicht fotografiert werden, vor allem nicht beim Gebet. Ich mache einige Fotos von den Schlafenden. Dann unterhalte ich mich unten bei den Händlern. Trinke einen Kaffee, Ameen will kein Geld.

Said
Said verkauft mit seinen zwei Brüdern süßes Gebäck. Er ist 15 Jahre alt, ein bzw. zwei Jahre jünger als seine beiden Brüder. Sein Vater ist schwer krank und kann nicht mehr arbeiten. Said hat die Schule aufgegeben und verkauft jetzt jeden Morgen hier die süßen Stückchen, die seine Mutter bäckt. Ameen unterstützt die Familie. Er kann gut Englisch und erzählt mir die Geschichte, Said steht daneben und lächelt stolz. Dann nimmt er eines der Bleche auf den Kopf und einen kleinen Karton mit schwarzem und gelbem Tee von Ameen und läuft den eingezäunten Gang nach oben und bietet den wartenden Männern davon an. Den ganzen Morgen lang tut er das, immer werden einige Männer schwach und kaufen ihm was ab. Said krieg einen Schekel für das Gebäck seiner Mutter und einen Schekel für den Tee, der er Ameen abgibt.

Noch einmal: Morgengebet
Kurz vor vier Uhr beten die Männer. Ich mache ein Bild unten auf der Straße, wo ich den Scheich gebeten hatte, fotografieren zu dürfen. Der Scheich ist den ganzen Morgen hier und lädt immer wieder kleine Gruppen von Männern zum Gebet ein; dann sammelt er Geld für die Moschee, die er in seinem Dorf südlich von Hebron bauen will.

Dreiviertel fünf
Meine Kollegen kommen mit dem Gast, einem Quäker aus England. Die Frauen kämpfen sich durch die Gitterschleuse, der Gast ist bald abgehängt. Die Männer machen hinter den beiden Frauen, deren Gegenwart drinnen im Terminal sie schätzen, wieder zu. Der Gast, eher als Tourist eingeschätzt, steckt fest. Von außen lotse ich ihn durch, die Männer kennen mich und machen Platz für den Fremden. Es dauert geschlagene 13 Minuten, bis ich ihn vorne am Eingang bei den beiden Frauen, die unsere Weste tragen, „abliefern“ kann. Wieder unten an der Straße, gibt Ameen mir einen Kräutertee. Alles ist still und friedlich und ich berichte per Handy an Anna oben am Eingang, dass heute ein guter Tag ist, die Männer stehen weit die Straße hinunter, in Viererreihen, diszipliniert und ruhig. Ich stecke das Handy ein. Da bricht ein Sturm los, Geschrei und Gerenne: gut hundert Männer laufen auf den Käfig-Eingang zu, daran vorbei und stürmen weit vorne die Stahlgitter, klettern hinüber und lassen sich drin im Gang auf die Wartenden fallen… Also doch. Ich mache automatisch einen Eintrag in meinen Notizblock: “4.59 am, the men from the end of the line are storming the steel rods to climb and jump”.

Verstört, wie immer nach dieser Frühschicht, verlasse ich diesen ungastlichen Ort. Aber ich kaufe Said 5 süße Stückchen ab, zum Frühstück für das Team und den Gast. Sie sehen aus wie Schoko-Croissants und kosten einen Schekel jedes Stück. Sie machen sich gut auf dem Tisch, weil doch Sonntag ist.

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