Friday, May 30, 2008

Geschichten über Kinder

Heiliger Antonius
Er trägt eine braune Kutte mit Kapuze, ein Seil ist durch kleine Schlaufen geführt und locker geknotet, ein dunkelroter Rosenkranz hängt neben den Kordeln herab. Er ist zwei und ein halbes Jahr alt. Er heißt Toni. Wir denken erst, dass er ein Spiel spielt, dass er sich verkleidet hat. Aber seine Tante erklärt uns, was es mit dieser Kutte auf sich hat: Toni trägt sie immer, vor allem, wenn er das Haus verlässt, oder wenn Besuch kommt, so wie jetzt gerade.

Antoinette, eigentlich seine Großtante, hat uns eingeladen und erzählt uns jetzt einiges aus der Geschichte dieses Hauses. Es ist eigentlich kein altes Haus, aber es hat so viele Geschichten gesehen, wie der Palast aus Tausendundeiner Nacht. Das Haus liegt dicht an der Grenze zwischen dem Jerusalemer Stadtgebiet und Bethlehem. Jetzt ist da eine Mauer gebaut, 12 Meter ist sie hoch. Sie geht hier weit in das Bethlehemer Gebiet hinein, ummauert eine Exklave, die Israel für sich reklamiert, das Gelände von Rachels Grab. Antoinettes Haus steht in einer Ecke, von zwei Seiten durch diese Mauer eingezwängt. Die Hälfte ihres Gartens ist für sie nicht mehr erreichbar, sie liegt auf der Jerusalemer, der Israelischen Seite. Weil das hier Grenzgebiet ist, hat das Haus viel vom Krieg, der hier die Geschichte der letzten 60 Jahre geprägt hat, gesehen. Hier wurde 1948 und 1967 gekämpft und wieder mit der ersten und mit der zweiten Intifada. Die Geschichten sind nicht so schön, wie die aus Tausendundeiner Nacht, obwohl es finstere Nachtgeschichten sind.

Das Zimmer, in dem wir sitzen und Tee trinken und Askadinyas essen, frisch vom Baum gepflückt, hat einige Bilder und große Fotos an seinen Wänden hängen. Auf einem ist eine riesige Familie zu sehen. Antoinette benennt uns alle ihre Kinder, Enkel und die ersten Urenkel. Einige Kinder sind zu früh geboren: Kriegskinder, deren Mütter von einer Bombe, die in der Nähe explodiert ist, betäubt worden war, oder von Tränengas überwältigt, das Kind fast verloren haben. Anton ist so ein Kind. Als die Mauer gebaut wurde, haben hier die Soldaten den Palästinensern aufgelauert, die eine Lücke in der Mauer nutzen und zu ihren Arbeitsplätzen laufen wollten. Bei einem Tränengasangriff ist die Mutter zu Fall gekommen und hat das Kind zu früh geboren. Toni ist im Brutkasten aufgezogen worden. Als er schließlich gesund zu seiner Familie in dieses Haus in der Mauerecke zurück konnte, haben die Eltern beschlossen, ihn dem Heiligen Antonius zu weihen. Und das sieht so aus, dass Toni jetzt ein Jahr lang die braune Kutte der Franziskaner trägt. Er trägt sie gern und ist stolz auf sie. Er entwickelt sich gut, aber er ist ängstlich, „als ob er weiß, wie es bei seiner Geburt zugegangen ist“, erklärt die Großtante.

Wir sind im Obergeschoss und sehen uns um, nach Jerusalem hinüber, nach Beit Jalla hinauf und zum Grab der Rachel. Wir sind aber im Blickfeld der Soldaten im Wachturm drüben. Der ist etwa 200 Meter entfernt, hat aber mehrere Videokameras. Jedenfalls hatte ich gerade den Wachturm in meiner Kamera fokussiert, als meine Kollegen mich am Ärmel zurückzogen, weil die Soldaten ihrerseits heftig winkten und bedeuteten, dass wir nicht fotografieren dürften.

Toni wächst also in diesem Haus auf, dessen Garten die Familie kaum mehr benutzt, weil er durch die Mauer und den übrig gebliebenen Bauschutt alle Schönheit verloren hat. Im Hof kann er spielen. Aber Nachbarn hat er kaum, weil die meisten Häuser hier leer stehen, die Bewohner sind „bis auf weiteres“ vertrieben worden. Nur Antoinette ist hier geblieben. Sie hat einen britischen Pass und Schutz. Am 13. Juni wird Toni den Feiertag seines Schutzherrn begehen. Wünschen wir ihm dafür einen schönen Tag und die Hoffnung, dass, so klein er ist, so schutzbedürftig, wie er aufgewachsen ist, er für das stehen wird, wofür sein Patron steht: Für das Wiederfinden verlorener Sachen! Wünschen wir ihm, dass er mit des Heiligen Antonius Hilfe den ganzen Garten, die Mandel- und Askadinyabäume seiner Familie, die Freiheit, sich in seinem eigenen Land bewegen zu können, zurück erhalten wird. Wünschen wir ihm, dass er die staubigen Reste der Mauer in seinem Garten eines Tages seinen Kindern und Enkeln wird zeigen und erklären können, was für finstere Zeiten dieses schöne Land hinter sich hat…

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