Friday, May 30, 2008

Brief an ein Kind

Liebe Paula!
Dein Geburtstagsgruß mit den vielen Wäscheleinen ist angekommen. Das hat gut gepasst, weil ich gestern meine ganze Wäsche gewaschen habe und die Wäscheleinen draußen im Hof gerade Mal so gereicht haben. Da war das Bild, das Du gemalt hast genau das richtige Thema. Vielen Dank dafür.

Ich konnte Dir nicht rechtzeitig zu Deinem Geburtstag schreiben, weil ich Eure Adresse nicht habe. Jetzt ist es zu spät und ich schicke den Brief durch die Computer – von meinem zu Eurem. Ich sitze also hier in Bethlehem, hoch in den Bergen von Palästina und denke an Dich, Du bist jetzt eben aus dem Kindergarten nachhause gekommen und spielst vielleicht allein für Dich in Deinem Zimmer. Bei mir ist fast jeden Tag gutes Wetter, aber das kann einem auch schnell mal zu viel werden, wenn man stundenlang in der Sonne steht und läuft und sitzt und dann einen kleinen Sonnenstich abgekriegt hat. Also: Nachträglich wünsche ich Dir zu Deinem Geburtstag ein schönes neues Kinderjahr, wo Du spielen und lernen und so fröhlich sein kannst, dass Dich die Erwachsenen darum beneiden. Du bist jetzt fünf Jahre alt und weißt schon, dass ein Geburtstag ein besonderer Tag ist: Dein Tag eben.

Bestimmt hast Du schöne Sachen geschenkt gekriegt. Ich schicke dir von hier schöne Fotos und kleine Geschichten dazu.

Da ist zuerst das Bild vom Esel. Vor einigen Tagen waren wir in einem Dorf, wo sich die Männer zu einer Demonstration versammelt haben, sie wollten nämlich bis ans Ende ihres Dorfes gehen, wo die Soldaten auf sie gewartet haben. Dort wollten sie den Soldaten sagen: Geht nach Hause, wir brauchen Euch hier nicht. Und vor dieser Demonstration haben die Männer, weil es Freitag war, der Tag, der in ihrer Religion für das besondere gemeinsame Gebet vorgesehen ist, wie bei uns der Sonntag, wo wir in die Kirche gehen. Diese Männer sind aber nicht in ihre schöne Moschee gegangen, die mitten im Dorf liegt, sondern sie haben sich an dieser Straße getroffen, zwei Minuten von den fremden Soldaten entfernt. Da haben sie sich auf die Straße gesetzt und haben ihr Gebet gemeinsam verrichtet, einer hat laut vorgesungen und dann haben alle in den Gesang eingestimmt. Es war sehr schön. Ich schicke Dir ein Foto davon mit.
Aber das Bild vom Esel. Als wir an dieser Straße ankamen, war noch niemand da. Nur ein Esel kam die Straße herunter getrabt. Der Esel war ziemlich beladen: mit einigem Werkzeug für die Arbeit auf dem Feld, mit Grasbüscheln als Abendbrot für den Esel, mit einem gelben Kanister mit Wasser für den Bauern und einem grünen Kanister mit Wasser für den Esel und, natürlich saß der Bauer oben auf. Schau Dir das Foto an: Da siehst Du den Esel mit der ganzen Last geduldig die Straße lang laufen. Und, guck genau hin: Was siehst Du hinter dem Esel? Eine Tankstelle. Natürlich braucht der Esel keine Tankstelle. Autos halten dort und tanken Benzin. Unser Esel läuft also ganz gleichgültig an der Tankstelle vorbei. Er interessiert sich auch nicht für die Autos, die Taxis, die Männer, die jetzt zum Gebet auf der Straße kommen und interessiert sich auch nicht für die fremden Soldaten, die den Bauern gefragt haben, wo er herkommt und was er in seinem gelben und in seinem grünen Tank hat. Na – weißt Du noch, was in dem einen und in dem anderen Tank ist?
Ich weiß nicht viel von dem Esel, aber wenn Du willst, kann ich für dich raus finden, wo der Esel lebt, wo er arbeitet und wie er die Welt findet, in der er lebt.
Stell Dir mal vor, Ihr hättet kein Auto. Wie würdet Ihr zum Beispiel in Euren Garten kommen? Mit dem Werkzeug und all den Sachen zum Grillen und Trinken? Na? Ihr würdet Euch einen Esel kaufen, oder besser zwei, einen für Paula und Sabine und noch einen für Christof und Emil. Das würde dann viel länger dauern, als jetzt die Fahrt mit dem Auto, aber es wäre einfacher, als zu Fuß laufen und die vielen Sachen zu tragen. Aber der Esel könnte dann, während Ihr den Grill fertig macht und Rasen mäht und euch hinsetzt und esst und trinkt, der Esel könnte währenddessen ganz schön von Eurem Gras und von den Blumen fressen. Die würde er besonders lieben. Ist das eine gute Idee?
Hallo Paula, hörst Du noch zu? Ich weiß, es gibt immer zwei Geschichten, wenn Dein Dassi Dir vorliest. Also sollst Du auch heute in diesem Geburtstagsbrief eine zweite Geschichte sehen.

Jetzt also das Bild von dem Kaktusstrauch. Siehst Du es? Der Strauch selbst ist grün, er hat dicke Zweige und Blätter, man kann gar nicht sagen, ob das Zweige oder Blätter sind. Sie sind dick und vor allem: Sie haben Stacheln. Davon erzähle ich gleich mehr. Der Kaktus hat wunderschöne große gelbe und rote Blüten, deshalb macht er so ein schönes Bild, schöner, als ich es malen kann. Vielleicht kannst Du den Kaktus abmalen?
Wie soll ich anfangen? Bei den Stacheln. Der Mann, der uns durch das verlassene Dorf geführt hat, Yakuub, hat uns erklärt: Überall da, wo wir solche Kaktussträucher sehen, befindet sich ein Dorf der Palästinenser. Da, wo wir waren, war das Dorf verfallen und seine Bewohner sind von den fremden Soldaten vertrieben worden, jetzt haben die alten Leute Enkelkinder in Deinem Alter und die wollen auch gern wieder in das alte Dorf kommen, das dürfen sie aber nicht. Die fremden Soldaten erlauben es nicht. Das Dorf heißt Lifta und ist ganz nahe bei der Hauptstadt von Israel und von Palästina. Die Hauptstadt heißt Jerusalem, den Namen hast Du bestimmt schon von mir gehört, weil ich schon zweimal ganz lange dort war.

Aber zurück zum Kaktus. Dieser Strauch eignet sich gut als Schutz rund um ein Dorf, weil er diese grässlich scharfen Stacheln hat, so lang, wie ein Finger und dünn, wie eine Nähnadel. Kein Tier will von diesem stachligen Strauch essen. Und genau so ist es gemeint, dass alle Tiere, die wilden Tiere, aber auch die Schafe und Ziegen, die draußen vor dem Dorf ihr Gras suchen sollen, abgehalten werden, in das Dorf herein zu kommen, außer, die Bauern machen das Gartentor auf und lassen ihre Schafe und Ziegen herein. Soweit also die spitzen Stacheln.
Und nun zu den Früchten. Mmmm! Sie sind süß, sie sind weich, sie zergehen auf der Zunge und schicken einen feinen Duft durch die Nase und wenn man abbeißt, ist es wie Geburtstag und Weihnachten zusammen. Mann muss sie allerdings schälen, weil auch ihre Schale sehr unangenehm ist, stachlig und voller klitzekleiner Fäden, die sich schnell über die Hände und Arme verbreiten und fürchterlich kitzeln. Hat man die widerspenstige Frucht aber geschält und führt sie sacht in den Mund – mmmm! Aber das hab ich ja schon beschrieben.

Dieser Kaktus hat also zwei große Begabungen: Er schützt das Dorf oder einen Bauernhof mitten in den Feldern vor unwillkommenen Tieren. Und einmal im Jahr gibt er seine Frucht, er gibt sie nicht gern her, darum die Stacheln, aber dann schmeckt diese Frucht wunderbar süß. Der Kaktus hat einen Namen. Hier geht die Geschichte, die ich Dir erzähle, nämlich noch ein Stück weiter. „Sabre“ heißt dieser Kaktus. Und das wird von den Bewohnern der Dörfer und von den fremden Soldaten verschieden ausgesprochen. In der Sprache der Dorfbewohner bedeutet „Sabre“ soviel wie Ausdauer oder Geduld. Sie nennen diesen Strauch so, weil er die heiße Sonne und die Dürre, wenn es monatelang nicht regnet und die Kälte im Winter alles ganz still erträgt und auch mal ein Jahr ganz ohne Regen aushält und wartet, aber dann blüht er wieder und lässt diese wunderbare Frucht wachsen. Die Dorfbewohner lieben ihren „Sabre“, sie möchten auch so sein, stachlig, ausdauernd und mit seinen Wurzeln fest im felsigen Grund verwachsen. Sie möchten die böse Zeit, in der die fremden Soldaten sie aus ihren Dörfern vertrieben haben, geduldig abwarten und eines Tages wiederkommen und ihre verlassenen Häuser wieder herrichten und von den Kaktus-Früchten essen. Das kann man doch verstehen, oder?

Das Wort „Sabre“ wird aber von den fremden Nachbarn, die die Soldaten geschickt haben, nicht nur anders ausgesprochen, es hat auch eine andere Bedeutung. Für sie bedeutet der Name und der Strauch: Sie sind in diesem Land geboren, haben gekämpft, um es sich zu erobern und wollen es für immer behalten. Stachlig wollen sie sein, starke Soldaten gegen die Bewohner der Dörfer und süß, weil sie das Land mit seinen Kaktus- und den anderen Früchten lieben und behalten wollen.
So hat dieser seltsame Strauch, stachlig und süß, seine Bedeutung für die Dorfbewohner und für die fremden Soldaten. Das sieht man dem Foto nicht an, nicht wahr? Ich schicke dir also ein Foto von dem Dorfbewohner mit, der uns die halb zerfallenen Häuser und die Gärten mit Oliven- und Mandelbäumen gezeigt hat und von den Häusern, damit du siehst, wie schön sie einmal waren.

Paula, schläfst Du noch nicht? Du kannst Dir die Geschichte morgen noch einmal vorlesen lassen und die Bilder angucken. Und Du kannst mir auch Fragen stellen. Ich schicke Dir die Antworten, versprochen. Jetzt schicke ich den Brief ab, damit Du ihn bald hast.
Tschüs!
Dein Dassi aus Bethlehem

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