Saturday, May 17, 2008

60 Jahre Naqba

Gerechtigkeit ist der Schlüssel zur Zukunft

Das kleine Mädchen zeigt nach oben und ruft etwas, ängstlich oder ärgerlich? Ihr großer Bruder beugt sich zu ihr herunter und erklärt etwas. Sie bleibt aufgeregt, aber dann leuchten ihre Augen. Jetzt sehe ich es auch: Ein Bündel schwarzer Luftballons hatte sich im Schlüsselbart verfangen und seinen Weg in den Himmel nicht gefunden. Jetzt hat er sich aber gelöst, steigt auf und wird vom Wind nach Osten getrieben.

Der Schlüssel, ein überdimensionales Exemplar eines altertümlichen Schlüssels liegt auf dem Bogen, der hier symbolisch für das Schlüsselloch und für das Tor zur Gerechtigkeit steht. Es ist ein altertümlicher Schlüssel mit Bart, wie er heute kaum noch irgendwo in Gebrauch ist, auch hier in Palästina nicht. Aber es ist der Schlüssel, der in vielen Wohnungen palästinensischer Flüchtlinge hängt, neben der Tür, vielleicht mit einem Foto von dem Haus, in dessen Haustür er vor der Flucht oder Vertreibung gepasst hatte, dem Heim der Flüchtlingsfamilie. Die Kinder kennen die Geschichte vom Schlüssel und von dem Haus der Familie, dem Eselstall im Hof und den Oliven- und Mandelbäumen im Garten. Die Kinder hier im Aida Flüchtlingslager wachsen mit den Erinnerungen der Großeltern, mit der Geschichte zu diesen Schlüsseln auf.

Wir befinden uns in einem der drei Flüchtlingslager von Bethlehem, dem Aida-Camp. Heute ist der 15. Mai, Naqba-Tag und in diesem Jahr ein besonderer, der 60. Gedenktag der Katastrophe der Palästinenser. Während Israel ausgelassen sein Jubiläum der Staatsgründung feiert, trauert Palästina.

Es war nicht leicht, hierher zu kommen, nicht weil der Weg schwer zu finden war; das Flüchtlingslager ist in einer Viertelstunde Fußweg von unserer Wohnung aus zu erreichen. Sondern weil einige Leute aus der Gruppe, mit der wir verabredet waren, beschlossen hatten, statt zu der Gedenkfeier zu der Demonstration des Widerstandes nach Beit Sahour zu fahren. Dort haben heute früh israelische Siedler, in berechneter Provokation der trauernden Palästinensischen Nation ein Grundstück in Beit Sahour besetzt, das die Israelische Armee vor einiger Zeit geräumt und der Stadtverwaltung von Beit Sahour und Bethlehem übergeben hatte. Ein Park, Spielplätze, ein Gemeindezentrum sollten dort gebaut werden, die Bauschilder standen schon, die EU als Sponsor auf den Schildern. Die Siedler waren bewaffnet, sie sind bei ihren Aktionen immer zum Kampf bereit. Als erstes haben sie die Bauschilder zerstört. Palästinenser, die sich nach der gewaltsamen Besetzung durch die Siedler heute früh dort versammelt hatten, wurden von Israelischer Grenzpolizei abgedrängt. Ein Rechtsanwalt, der sich zum Sprecher des spontanen Protestes gemacht hatte, war verhaftet worden. Wir standen im Büro vom Holy Land Trust und besprachen die Situation. Unser Team der Ökumenischen Begleiter hat sich gegen die Fahrt nach Beit Sahour entschieden und stattdessen wie geplant den Weg ins Aida Flüchtlingslager genommen.

Jetzt fliegen die Luftballons, die „den Himmel über Palästina schwarz färben“ sollen, als Ausdruck der Trauer. Sie fliegen, 21.915 Ballons, vom Wind getrieben, nach Osten. Es ist je einer für jeden Tag der „Naqba“, der Katastrophe. Kinder in schwarzen Hosen und mit der Aufschrift „1948“ auf den schwarzen T-Shirts, kommen aus dem Jugendzentrum, Bündel von Luftballons in den Händen, jeweils einen Zettel tragend mit der Schilderung von Details der Schicksale der Familien hier im Flüchtlingslager. Die Bündel mit ihren Geschichten steigen auf und brechen den blassblauen Himmel auf. Die Erwachsenen schauen ihnen nach, ihre Minen zeigen nicht, was sie denken.

An dieser Stelle muss ich meine ganz eigene Erinnerung an die letzten Luftballons nennen: Vor genau 2 Wochen habe ich Luftballons fliegen sehen, auf der Hochzeit unseres jüngsten Sohnes. Rote Luftballons, von fröhlichen Menschen in den Himmel geschickt, mit kleinen Zetteln und Wünschen für die beiden Hochzeiter. Der Wind trug die Ballons hoch hinauf und aus dem grünen Garten in Babelsberg über Potsdam weg in die Havellandschaft... Was für ein Kontrast zu der Demonstration des Schmerzes, die wir hier im Aida Flüchtlingslager im Palästinensergebiet haben.

Wir werden in den nächsten Tagen immer wieder mit der Frage an sie herantreten: Wie lange glauben sie, wird es brauchen, bis die Gerechtigkeit, von der alle Slogans handeln, sich durchsetzen wird. Gebt uns unsere Häuser wieder! Lasst uns zurückkehren in unsere Dörfer! Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts an Palästinensern gegen die Anerkennung Israels! Gebt uns Gerechtigkeit und ihr werdet Frieden finden! Das sind die Slogans dieser Tage.

Zwei kleine Jungs streiten sich, weil sich ihre Bündel Ballons verhakt haben, sie werden handgreiflich, eine ältere Schwester greift ein und schlägt vor, dass sie ihre verhakten Bündel zur gleichen Zeit los lassen. Das tun sie. Ein dicklicher Junge versucht, mit seinen Ballons hoch zu springen und zu fliegen, was Lachen bei den Umstehenden auslöst. Ein älterer Mann, der mit anderen Männern an einer Mauer lehnt, fängt einen Ballon auf, der schlapp gemacht und abgesunken ist. Verlegen macht er drei Schritte auf die Kinder zu und gibt seinen Fang an sie ab. Unter dem riesigen Schlüssel haben sich die größeren Jungs mit Fahnen versammelt, sie tanzen und singen. Auch eine Doppelreihe Mädchen hat sich zum Tanz bereit gemacht, die Gesichter leuchten, die Fahnen flattern im Wind. Es ist eine große Stimmung. Ich glaube, diese Kinder werden sich noch als Erwachsene an diesen Tag und die Aktion mit den schwarzen Luftballons erinnern. Hoffentlich haben sie dann bessere Aussichten auf ein Leben in Gerechtigkeit und Frieden, als ihre Eltern es heute haben. Hoffentlich findet der Schlüssel– der die Inschrift trägt: „nicht zum Verkauf“ – seine Tür zur Gerechtigkeit und schließt sie auf.

1 comment:

frank-berlin said...

Luftballons vs. bewaffente, gewaltbereite Siedler: welch deutliches Bild der Situation. Wenn wir im Westen nicht die Öfefntlichkeit aktivieren und unsere Politiker dazu bringen, Israel zur Änderung seiner Aktivitäten zu veranlassen, wird keine Hoffnung wachsen können.