Friday, May 30, 2008

Brief an ein Kind

Liebe Paula!
Dein Geburtstagsgruß mit den vielen Wäscheleinen ist angekommen. Das hat gut gepasst, weil ich gestern meine ganze Wäsche gewaschen habe und die Wäscheleinen draußen im Hof gerade Mal so gereicht haben. Da war das Bild, das Du gemalt hast genau das richtige Thema. Vielen Dank dafür.

Ich konnte Dir nicht rechtzeitig zu Deinem Geburtstag schreiben, weil ich Eure Adresse nicht habe. Jetzt ist es zu spät und ich schicke den Brief durch die Computer – von meinem zu Eurem. Ich sitze also hier in Bethlehem, hoch in den Bergen von Palästina und denke an Dich, Du bist jetzt eben aus dem Kindergarten nachhause gekommen und spielst vielleicht allein für Dich in Deinem Zimmer. Bei mir ist fast jeden Tag gutes Wetter, aber das kann einem auch schnell mal zu viel werden, wenn man stundenlang in der Sonne steht und läuft und sitzt und dann einen kleinen Sonnenstich abgekriegt hat. Also: Nachträglich wünsche ich Dir zu Deinem Geburtstag ein schönes neues Kinderjahr, wo Du spielen und lernen und so fröhlich sein kannst, dass Dich die Erwachsenen darum beneiden. Du bist jetzt fünf Jahre alt und weißt schon, dass ein Geburtstag ein besonderer Tag ist: Dein Tag eben.

Bestimmt hast Du schöne Sachen geschenkt gekriegt. Ich schicke dir von hier schöne Fotos und kleine Geschichten dazu.

Da ist zuerst das Bild vom Esel. Vor einigen Tagen waren wir in einem Dorf, wo sich die Männer zu einer Demonstration versammelt haben, sie wollten nämlich bis ans Ende ihres Dorfes gehen, wo die Soldaten auf sie gewartet haben. Dort wollten sie den Soldaten sagen: Geht nach Hause, wir brauchen Euch hier nicht. Und vor dieser Demonstration haben die Männer, weil es Freitag war, der Tag, der in ihrer Religion für das besondere gemeinsame Gebet vorgesehen ist, wie bei uns der Sonntag, wo wir in die Kirche gehen. Diese Männer sind aber nicht in ihre schöne Moschee gegangen, die mitten im Dorf liegt, sondern sie haben sich an dieser Straße getroffen, zwei Minuten von den fremden Soldaten entfernt. Da haben sie sich auf die Straße gesetzt und haben ihr Gebet gemeinsam verrichtet, einer hat laut vorgesungen und dann haben alle in den Gesang eingestimmt. Es war sehr schön. Ich schicke Dir ein Foto davon mit.
Aber das Bild vom Esel. Als wir an dieser Straße ankamen, war noch niemand da. Nur ein Esel kam die Straße herunter getrabt. Der Esel war ziemlich beladen: mit einigem Werkzeug für die Arbeit auf dem Feld, mit Grasbüscheln als Abendbrot für den Esel, mit einem gelben Kanister mit Wasser für den Bauern und einem grünen Kanister mit Wasser für den Esel und, natürlich saß der Bauer oben auf. Schau Dir das Foto an: Da siehst Du den Esel mit der ganzen Last geduldig die Straße lang laufen. Und, guck genau hin: Was siehst Du hinter dem Esel? Eine Tankstelle. Natürlich braucht der Esel keine Tankstelle. Autos halten dort und tanken Benzin. Unser Esel läuft also ganz gleichgültig an der Tankstelle vorbei. Er interessiert sich auch nicht für die Autos, die Taxis, die Männer, die jetzt zum Gebet auf der Straße kommen und interessiert sich auch nicht für die fremden Soldaten, die den Bauern gefragt haben, wo er herkommt und was er in seinem gelben und in seinem grünen Tank hat. Na – weißt Du noch, was in dem einen und in dem anderen Tank ist?
Ich weiß nicht viel von dem Esel, aber wenn Du willst, kann ich für dich raus finden, wo der Esel lebt, wo er arbeitet und wie er die Welt findet, in der er lebt.
Stell Dir mal vor, Ihr hättet kein Auto. Wie würdet Ihr zum Beispiel in Euren Garten kommen? Mit dem Werkzeug und all den Sachen zum Grillen und Trinken? Na? Ihr würdet Euch einen Esel kaufen, oder besser zwei, einen für Paula und Sabine und noch einen für Christof und Emil. Das würde dann viel länger dauern, als jetzt die Fahrt mit dem Auto, aber es wäre einfacher, als zu Fuß laufen und die vielen Sachen zu tragen. Aber der Esel könnte dann, während Ihr den Grill fertig macht und Rasen mäht und euch hinsetzt und esst und trinkt, der Esel könnte währenddessen ganz schön von Eurem Gras und von den Blumen fressen. Die würde er besonders lieben. Ist das eine gute Idee?
Hallo Paula, hörst Du noch zu? Ich weiß, es gibt immer zwei Geschichten, wenn Dein Dassi Dir vorliest. Also sollst Du auch heute in diesem Geburtstagsbrief eine zweite Geschichte sehen.

Jetzt also das Bild von dem Kaktusstrauch. Siehst Du es? Der Strauch selbst ist grün, er hat dicke Zweige und Blätter, man kann gar nicht sagen, ob das Zweige oder Blätter sind. Sie sind dick und vor allem: Sie haben Stacheln. Davon erzähle ich gleich mehr. Der Kaktus hat wunderschöne große gelbe und rote Blüten, deshalb macht er so ein schönes Bild, schöner, als ich es malen kann. Vielleicht kannst Du den Kaktus abmalen?
Wie soll ich anfangen? Bei den Stacheln. Der Mann, der uns durch das verlassene Dorf geführt hat, Yakuub, hat uns erklärt: Überall da, wo wir solche Kaktussträucher sehen, befindet sich ein Dorf der Palästinenser. Da, wo wir waren, war das Dorf verfallen und seine Bewohner sind von den fremden Soldaten vertrieben worden, jetzt haben die alten Leute Enkelkinder in Deinem Alter und die wollen auch gern wieder in das alte Dorf kommen, das dürfen sie aber nicht. Die fremden Soldaten erlauben es nicht. Das Dorf heißt Lifta und ist ganz nahe bei der Hauptstadt von Israel und von Palästina. Die Hauptstadt heißt Jerusalem, den Namen hast Du bestimmt schon von mir gehört, weil ich schon zweimal ganz lange dort war.

Aber zurück zum Kaktus. Dieser Strauch eignet sich gut als Schutz rund um ein Dorf, weil er diese grässlich scharfen Stacheln hat, so lang, wie ein Finger und dünn, wie eine Nähnadel. Kein Tier will von diesem stachligen Strauch essen. Und genau so ist es gemeint, dass alle Tiere, die wilden Tiere, aber auch die Schafe und Ziegen, die draußen vor dem Dorf ihr Gras suchen sollen, abgehalten werden, in das Dorf herein zu kommen, außer, die Bauern machen das Gartentor auf und lassen ihre Schafe und Ziegen herein. Soweit also die spitzen Stacheln.
Und nun zu den Früchten. Mmmm! Sie sind süß, sie sind weich, sie zergehen auf der Zunge und schicken einen feinen Duft durch die Nase und wenn man abbeißt, ist es wie Geburtstag und Weihnachten zusammen. Mann muss sie allerdings schälen, weil auch ihre Schale sehr unangenehm ist, stachlig und voller klitzekleiner Fäden, die sich schnell über die Hände und Arme verbreiten und fürchterlich kitzeln. Hat man die widerspenstige Frucht aber geschält und führt sie sacht in den Mund – mmmm! Aber das hab ich ja schon beschrieben.

Dieser Kaktus hat also zwei große Begabungen: Er schützt das Dorf oder einen Bauernhof mitten in den Feldern vor unwillkommenen Tieren. Und einmal im Jahr gibt er seine Frucht, er gibt sie nicht gern her, darum die Stacheln, aber dann schmeckt diese Frucht wunderbar süß. Der Kaktus hat einen Namen. Hier geht die Geschichte, die ich Dir erzähle, nämlich noch ein Stück weiter. „Sabre“ heißt dieser Kaktus. Und das wird von den Bewohnern der Dörfer und von den fremden Soldaten verschieden ausgesprochen. In der Sprache der Dorfbewohner bedeutet „Sabre“ soviel wie Ausdauer oder Geduld. Sie nennen diesen Strauch so, weil er die heiße Sonne und die Dürre, wenn es monatelang nicht regnet und die Kälte im Winter alles ganz still erträgt und auch mal ein Jahr ganz ohne Regen aushält und wartet, aber dann blüht er wieder und lässt diese wunderbare Frucht wachsen. Die Dorfbewohner lieben ihren „Sabre“, sie möchten auch so sein, stachlig, ausdauernd und mit seinen Wurzeln fest im felsigen Grund verwachsen. Sie möchten die böse Zeit, in der die fremden Soldaten sie aus ihren Dörfern vertrieben haben, geduldig abwarten und eines Tages wiederkommen und ihre verlassenen Häuser wieder herrichten und von den Kaktus-Früchten essen. Das kann man doch verstehen, oder?

Das Wort „Sabre“ wird aber von den fremden Nachbarn, die die Soldaten geschickt haben, nicht nur anders ausgesprochen, es hat auch eine andere Bedeutung. Für sie bedeutet der Name und der Strauch: Sie sind in diesem Land geboren, haben gekämpft, um es sich zu erobern und wollen es für immer behalten. Stachlig wollen sie sein, starke Soldaten gegen die Bewohner der Dörfer und süß, weil sie das Land mit seinen Kaktus- und den anderen Früchten lieben und behalten wollen.
So hat dieser seltsame Strauch, stachlig und süß, seine Bedeutung für die Dorfbewohner und für die fremden Soldaten. Das sieht man dem Foto nicht an, nicht wahr? Ich schicke dir also ein Foto von dem Dorfbewohner mit, der uns die halb zerfallenen Häuser und die Gärten mit Oliven- und Mandelbäumen gezeigt hat und von den Häusern, damit du siehst, wie schön sie einmal waren.

Paula, schläfst Du noch nicht? Du kannst Dir die Geschichte morgen noch einmal vorlesen lassen und die Bilder angucken. Und Du kannst mir auch Fragen stellen. Ich schicke Dir die Antworten, versprochen. Jetzt schicke ich den Brief ab, damit Du ihn bald hast.
Tschüs!
Dein Dassi aus Bethlehem

Geschichten über Kinder

Heiliger Antonius
Er trägt eine braune Kutte mit Kapuze, ein Seil ist durch kleine Schlaufen geführt und locker geknotet, ein dunkelroter Rosenkranz hängt neben den Kordeln herab. Er ist zwei und ein halbes Jahr alt. Er heißt Toni. Wir denken erst, dass er ein Spiel spielt, dass er sich verkleidet hat. Aber seine Tante erklärt uns, was es mit dieser Kutte auf sich hat: Toni trägt sie immer, vor allem, wenn er das Haus verlässt, oder wenn Besuch kommt, so wie jetzt gerade.

Antoinette, eigentlich seine Großtante, hat uns eingeladen und erzählt uns jetzt einiges aus der Geschichte dieses Hauses. Es ist eigentlich kein altes Haus, aber es hat so viele Geschichten gesehen, wie der Palast aus Tausendundeiner Nacht. Das Haus liegt dicht an der Grenze zwischen dem Jerusalemer Stadtgebiet und Bethlehem. Jetzt ist da eine Mauer gebaut, 12 Meter ist sie hoch. Sie geht hier weit in das Bethlehemer Gebiet hinein, ummauert eine Exklave, die Israel für sich reklamiert, das Gelände von Rachels Grab. Antoinettes Haus steht in einer Ecke, von zwei Seiten durch diese Mauer eingezwängt. Die Hälfte ihres Gartens ist für sie nicht mehr erreichbar, sie liegt auf der Jerusalemer, der Israelischen Seite. Weil das hier Grenzgebiet ist, hat das Haus viel vom Krieg, der hier die Geschichte der letzten 60 Jahre geprägt hat, gesehen. Hier wurde 1948 und 1967 gekämpft und wieder mit der ersten und mit der zweiten Intifada. Die Geschichten sind nicht so schön, wie die aus Tausendundeiner Nacht, obwohl es finstere Nachtgeschichten sind.

Das Zimmer, in dem wir sitzen und Tee trinken und Askadinyas essen, frisch vom Baum gepflückt, hat einige Bilder und große Fotos an seinen Wänden hängen. Auf einem ist eine riesige Familie zu sehen. Antoinette benennt uns alle ihre Kinder, Enkel und die ersten Urenkel. Einige Kinder sind zu früh geboren: Kriegskinder, deren Mütter von einer Bombe, die in der Nähe explodiert ist, betäubt worden war, oder von Tränengas überwältigt, das Kind fast verloren haben. Anton ist so ein Kind. Als die Mauer gebaut wurde, haben hier die Soldaten den Palästinensern aufgelauert, die eine Lücke in der Mauer nutzen und zu ihren Arbeitsplätzen laufen wollten. Bei einem Tränengasangriff ist die Mutter zu Fall gekommen und hat das Kind zu früh geboren. Toni ist im Brutkasten aufgezogen worden. Als er schließlich gesund zu seiner Familie in dieses Haus in der Mauerecke zurück konnte, haben die Eltern beschlossen, ihn dem Heiligen Antonius zu weihen. Und das sieht so aus, dass Toni jetzt ein Jahr lang die braune Kutte der Franziskaner trägt. Er trägt sie gern und ist stolz auf sie. Er entwickelt sich gut, aber er ist ängstlich, „als ob er weiß, wie es bei seiner Geburt zugegangen ist“, erklärt die Großtante.

Wir sind im Obergeschoss und sehen uns um, nach Jerusalem hinüber, nach Beit Jalla hinauf und zum Grab der Rachel. Wir sind aber im Blickfeld der Soldaten im Wachturm drüben. Der ist etwa 200 Meter entfernt, hat aber mehrere Videokameras. Jedenfalls hatte ich gerade den Wachturm in meiner Kamera fokussiert, als meine Kollegen mich am Ärmel zurückzogen, weil die Soldaten ihrerseits heftig winkten und bedeuteten, dass wir nicht fotografieren dürften.

Toni wächst also in diesem Haus auf, dessen Garten die Familie kaum mehr benutzt, weil er durch die Mauer und den übrig gebliebenen Bauschutt alle Schönheit verloren hat. Im Hof kann er spielen. Aber Nachbarn hat er kaum, weil die meisten Häuser hier leer stehen, die Bewohner sind „bis auf weiteres“ vertrieben worden. Nur Antoinette ist hier geblieben. Sie hat einen britischen Pass und Schutz. Am 13. Juni wird Toni den Feiertag seines Schutzherrn begehen. Wünschen wir ihm dafür einen schönen Tag und die Hoffnung, dass, so klein er ist, so schutzbedürftig, wie er aufgewachsen ist, er für das stehen wird, wofür sein Patron steht: Für das Wiederfinden verlorener Sachen! Wünschen wir ihm, dass er mit des Heiligen Antonius Hilfe den ganzen Garten, die Mandel- und Askadinyabäume seiner Familie, die Freiheit, sich in seinem eigenen Land bewegen zu können, zurück erhalten wird. Wünschen wir ihm, dass er die staubigen Reste der Mauer in seinem Garten eines Tages seinen Kindern und Enkeln wird zeigen und erklären können, was für finstere Zeiten dieses schöne Land hinter sich hat…

Geschichten über Kinder

Schwarze T-Shirts
Jeden Freitag finden Demonstrationen in den Dörfern um Bethlehem statt. Freitag ist Feiertag. Die Muslime haben am Mittag ihr großes Gebet, die Moscheen sind dann voll. Und die Juden beginnen mit der Dämmerung den Sabbat, in den jüdischen Städten und Jerusalemer Wohnvierteln sind dann die Straßen voll, die frommen Juden, und es gibt viel von ihnen, gehen in die Synagogen. Freitag, Feiertag, arbeitsfrei, Zeit zum Demonstrieren.

Wir sind in Umm Salomone, einem Dorf südlich von Bethlehem. Die Szene ist eingeübt. Soldaten sperren den Ausgang des Dorfes auf die Landstraße ab. Stacheldraht ist quer über die Straße gelegt. Dahinter stehen sie, in ihren Furcht erregenden Kampfanzügen, schwer bewaffnet, breitbeinig in zwei Reihen. Vor dem Stacheldraht viele Kinder, einige Männer, die nachher reden werden. Zwei Fernsehkameras, Reporter, die manchmal plötzlich auf der Seite der Soldaten stehen und ihre Fotos von den Demonstranten schießen werden, von den Soldaten gelitten, weil der Sinn dieses Spiels hier genau der ist: Schrecken zu verbreiten und zu zeigen, wie unerbittlich und unbezwingbar die Soldaten mit Demonstranten fertig werden.

Plötzlich sehen wir Gerangel. Die Kinder haben angefangen, den Stacheldraht, der richtig böse, nicht mit harmlosen Stacheln, sondern mit unzähligen kleinen Klingen besetzt ist, zu sich herüber zu ziehen, zur Dorfseite hin, damit er irgendwann nicht mehr sperrt. Die Soldaten fassen sofort zu und nun ziehen sie von beiden Seiten, die kleinen und die großen Jungs. „Ein Männerspiel!“, sagt Anna, meine schwedische Kollegin. Sie sagt es verächtlich. Irgendwann sind die großen Jungs abgelenkt und merken nicht, dass die kleinen Jungs listig an einer Stelle nachgegeben haben, ein Soldat fällt um, das Gewehr klackert auf der Straße, Unsicherheit bei den großen Jungs, ihre Spielfreude lässt für einen Augenblick nach und die kleinen Jungs ziehen den Stacheldraht schnell auf die andere Straßenseite. Jetzt ist kein Stacheldraht mehr da und die Soldaten werden echt böse, rufen Befehle, ziehen sich einige Meter zurück, bilden eine feste Reihe, breitbeinig, ihre Gewehre im Anschlag. Die kleinen Jungs laufen mit dem Stacheldraht in Richtung Dorf, wie eine lange Schlange ziehen sie ihn hinter sich her, sie lachen. Ich will den weiteren Fortgang nicht berichten. Auch die Reden nicht, die an uns wenige Zuschauer gerichtet sind, auf Englisch und für meinen Geschmack etwas zu pathetisch...
Was hat es mit den schwarzen T-Shirts auf sich? Schwarz steht für die Trauer über die andauernde Naqba, die Katastrophe von Flucht und Vertreibung. Die Zahl 194, mit weißen Buchstaben dargestellt, steht für die UN-Resolution vom Dezember 1948. In ihr ist das Recht der Palästinensischen Flüchtlinge auf Rückkehr in ihre Dörfer festgelegt. Die Zahl 8, in roter Farbe, macht daraus die Jahreszahl 1948, das Jahr der Katastrophe, in der eine halbe Million Palästinenser vertrieben – und danach nie wieder zurück gelassen worden war. 60 Jahre Naqba, 60 Jahre Missachtung der UN-Resolution. Und mit der Errichtung der Sperranlage, die hier weiter gebaut werden soll, werden neue Familien ihres Landes beraubt oder heimatlosl.

Aber warum tragen die kleinen Kinder schwarz, Jungs, die gerade erst in die Schule gekommen sind? Warum werden sie hier gegen die Soldaten aufgestellt? War das denn ihre eigene Idee? An einer Stelle des Demonstrations-Theaters, das hier gespielt wurde, haben einige Jungs plötzlich zwei Finger in V-Form nach oben gereckt, dicht vor die Gesichter der Soldaten, die darauf zum Teil wütend reagiert und nach den kleinen Fingern geschlagen haben, wie man nach einer Fliege schlägt. Ich denke, hier ist das gute Anliegen des Dorfes Umm Salomone, das durch eine Mauer von seinen Feldern und von der Landstraße abgetrennt werden soll, eine Mauer, die die illegalen Siedler der grünen Städte schützen soll, die Israel hier wie eine Perlenkette so anlegt, dass ein weiter Teil Palästinas praktisch an Israel angeschlossen wird – hier ist das gute Anliegen durch die verspielte Art des Protestes verwässert. Und die Kinder werden dafür missbraucht, die kleinen Jungs. Die großen sowieso: Wie dumm müssen die sich vorkommen in diesem unwürdigen Spiel!

Geschichten über Kinder

Milchgesicht
Bin ich noch bei Kindergeschichten?
Sein Gesicht fasziniert mich. Ich stehe ziemlich weit in den vorderen Reihen, wo ich eigentlich nicht sein soll. Das Gerangel um den Stacheldraht ist vorbei: Soldaten und Zivilisten, vor allem die ganz jungen, stehen sich hier gegenüber. Kleine Gespräche, meist von den Zivilisten angezettelt, springen über die unsichtbare Linie, die die Soldaten sichern sollen. Einige Gesichter in den Uniformen sind eisig, oder abweisend. Andere sind gleichmütig, wieder andere wachsam. Aber eines ist dabei, von einem Ansatz eines blonden Bärtchens geschmückt, mit einer Brille, die das verlegene Lächeln der Augen nicht verbergen kann – ein Gesicht, das mehr einem Kind gehört, als einem Soldaten. Er soll Schrecken verbreiten, dieser Soldat, aber das hat er nicht richtig gelernt. Unter ihm spielt gerade ein Kind Soldat, es steht breitbeinig da, hält ein imaginäres Gewehr in den Armen und hat ein fürchterliches Gesicht aufgesetzt. Der Soldat lacht. Lacht er über das Kind? Ist er um sich selbst verlegen?

Ein Gedanke nistet sich bei mir ein: Was macht dieses Land Israel mit seinen Kindern?!

Geschichten über Kinder

Schulweg
Nennen wir sie Hiba. Sie ist 11 Jahre alt und lebt mit ihrer Familie in An Nu’man. Wie ihre Eltern hat sie einen grünen Ausweis, der sie als Palästinenserin definiert. Und wie ihre Eltern wird sie vom Israelischen Staat als illegal in Jerusalem lebend angesehen. Das ganze Dorf gehört zu Palästina, aber Israel hat seine Sperranlage so um das Dorf herum gelegt, dass die etwa 20 Familien jetzt von den besetzten Palästinensergebieten abgeschnitten sind. Zum Einkaufen, Arbeiten, zum Arzt und zu ihren Freunden und Familienangehörigen müssen sie jetzt eine Grenz passieren und eine strenge Kontrolle über sich ergehen lassen. Jedesmal.
Und da sind wir wieder bei Hiba. Jeden Morgen geht sie zur Schule im palästinensischen Nachbardorf Al Khas und mittags kommt sie zurück. Immer muss sie durch die Kontrolle und ist dabei dem guten oder bösen Willen der Soldaten ausgesetzt. Es ist ein kleiner Kontrollpunkt, von drei oder vier Soldaten bemannt, selten von höheren Offizieren besucht. Die Willkür der gelangweilten Soldaten nimmt hier besonders krasse Formen an. Schon vor einem Jahr hatte ich eine ganze Reihe unglaublicher Geschichten gehört, die in einem Fall mit dem Tod eines Dorfbewohners geendet hatten. Und nun stehe ich Hiba gegenüber, während ihr Vater die Geschichte ihrer Einschüchterung, um ein ganz vorsichtiges Wort zu gebrauchen, erzählt. Eine TV-Gruppe ist etwa gleichzeitig mit uns an dem Kontrollpunkt angekommen und mit der Dokumentation der Situation der Schulkinder beschäftigt. Hiba steht dabei, den Blick gesenkt, während ihr Vater redet. Alle anderen Schulkinder, Mädchen und Jungs verschiedenen Alters, stehen um sie herum. Die Kinder halten sich an das strenge Gebot ihrer Eltern, immer zusammen zu gehen, nie jemanden allein zurück zu lassen.

Hiba war eines Morgens von einer Soldatin in der Drehtür eingeschlossen worden. Sie konnte nicht vor und nicht zurück. Die Soldatin kam hinter ihrem schusssicheren Fenster hervor und verlangte von ihr, sie solle laut und deutlich aussprechen, sie sei eine Hure. Noch mehr Vorschläge von Selbstbeschimpfungen hatte die Soldatin für Hiba bereit. Hiba hat sich verweigert. Die Soldatin brachte ihr Bier, das sollte sie trinken. Für Muslime und erst recht für Mädchen in ihrem Alter ist das eine Provokation und Beleidigung. Auch das hat Hiba verweigert. 15 Minuten hielt die Soldatin das elfjährige Mädchen in der engen Drehtür gefangen. Schließlich hat sie es entlassen, aber angedroht, heute Nachmittag werde sie länger festgehalten, falls sie sich immer noch weigere, den Anweisungen der Soldaten zu folgen. Hiba ist an diesem Nachmittag nicht Hause gegangen. Nach der Schule hat sie den anderen Kindern Bescheid gesagt und ist zu ihrem Onkel gegangen, der in Al Khas wohnt. Abends hat ihr Vater sie abgeholt.

Ich weiß nicht, wie sie es schafft, jeden Tag wieder durch die Grenzkontrolle zu gehen, aber einen anderen Schulweg gibt es nicht und zur Schule will sie doch. Ich weiß auch nicht, wie die Angelegenheit, die von den Eltern als Beschwerde vor die Militärbehörde gebracht worden ist, intern geklärt worden ist. Wurde die Soldatin bestraft? Hängt jetzt ein Aushang in dem Wachhäuschen „Du sollst nicht kleine Mädchen belästigen und einschüchtern“? Ich weiß vor allem nicht, ob die Generale und die Minister und die Parteiführer darüber nachdenken, dass die Besetzung Palästinas durch Israel mit jedem Tag, die sie andauert, nicht nur die Besetzten sondern mehr noch den Besatzern, hier den Soldaten und Soldatinnen mehr ihr menschliches Gesicht nimmt.

Saturday, May 17, 2008

60 Jahre Naqba

Gerechtigkeit ist der Schlüssel zur Zukunft

Das kleine Mädchen zeigt nach oben und ruft etwas, ängstlich oder ärgerlich? Ihr großer Bruder beugt sich zu ihr herunter und erklärt etwas. Sie bleibt aufgeregt, aber dann leuchten ihre Augen. Jetzt sehe ich es auch: Ein Bündel schwarzer Luftballons hatte sich im Schlüsselbart verfangen und seinen Weg in den Himmel nicht gefunden. Jetzt hat er sich aber gelöst, steigt auf und wird vom Wind nach Osten getrieben.

Der Schlüssel, ein überdimensionales Exemplar eines altertümlichen Schlüssels liegt auf dem Bogen, der hier symbolisch für das Schlüsselloch und für das Tor zur Gerechtigkeit steht. Es ist ein altertümlicher Schlüssel mit Bart, wie er heute kaum noch irgendwo in Gebrauch ist, auch hier in Palästina nicht. Aber es ist der Schlüssel, der in vielen Wohnungen palästinensischer Flüchtlinge hängt, neben der Tür, vielleicht mit einem Foto von dem Haus, in dessen Haustür er vor der Flucht oder Vertreibung gepasst hatte, dem Heim der Flüchtlingsfamilie. Die Kinder kennen die Geschichte vom Schlüssel und von dem Haus der Familie, dem Eselstall im Hof und den Oliven- und Mandelbäumen im Garten. Die Kinder hier im Aida Flüchtlingslager wachsen mit den Erinnerungen der Großeltern, mit der Geschichte zu diesen Schlüsseln auf.

Wir befinden uns in einem der drei Flüchtlingslager von Bethlehem, dem Aida-Camp. Heute ist der 15. Mai, Naqba-Tag und in diesem Jahr ein besonderer, der 60. Gedenktag der Katastrophe der Palästinenser. Während Israel ausgelassen sein Jubiläum der Staatsgründung feiert, trauert Palästina.

Es war nicht leicht, hierher zu kommen, nicht weil der Weg schwer zu finden war; das Flüchtlingslager ist in einer Viertelstunde Fußweg von unserer Wohnung aus zu erreichen. Sondern weil einige Leute aus der Gruppe, mit der wir verabredet waren, beschlossen hatten, statt zu der Gedenkfeier zu der Demonstration des Widerstandes nach Beit Sahour zu fahren. Dort haben heute früh israelische Siedler, in berechneter Provokation der trauernden Palästinensischen Nation ein Grundstück in Beit Sahour besetzt, das die Israelische Armee vor einiger Zeit geräumt und der Stadtverwaltung von Beit Sahour und Bethlehem übergeben hatte. Ein Park, Spielplätze, ein Gemeindezentrum sollten dort gebaut werden, die Bauschilder standen schon, die EU als Sponsor auf den Schildern. Die Siedler waren bewaffnet, sie sind bei ihren Aktionen immer zum Kampf bereit. Als erstes haben sie die Bauschilder zerstört. Palästinenser, die sich nach der gewaltsamen Besetzung durch die Siedler heute früh dort versammelt hatten, wurden von Israelischer Grenzpolizei abgedrängt. Ein Rechtsanwalt, der sich zum Sprecher des spontanen Protestes gemacht hatte, war verhaftet worden. Wir standen im Büro vom Holy Land Trust und besprachen die Situation. Unser Team der Ökumenischen Begleiter hat sich gegen die Fahrt nach Beit Sahour entschieden und stattdessen wie geplant den Weg ins Aida Flüchtlingslager genommen.

Jetzt fliegen die Luftballons, die „den Himmel über Palästina schwarz färben“ sollen, als Ausdruck der Trauer. Sie fliegen, 21.915 Ballons, vom Wind getrieben, nach Osten. Es ist je einer für jeden Tag der „Naqba“, der Katastrophe. Kinder in schwarzen Hosen und mit der Aufschrift „1948“ auf den schwarzen T-Shirts, kommen aus dem Jugendzentrum, Bündel von Luftballons in den Händen, jeweils einen Zettel tragend mit der Schilderung von Details der Schicksale der Familien hier im Flüchtlingslager. Die Bündel mit ihren Geschichten steigen auf und brechen den blassblauen Himmel auf. Die Erwachsenen schauen ihnen nach, ihre Minen zeigen nicht, was sie denken.

An dieser Stelle muss ich meine ganz eigene Erinnerung an die letzten Luftballons nennen: Vor genau 2 Wochen habe ich Luftballons fliegen sehen, auf der Hochzeit unseres jüngsten Sohnes. Rote Luftballons, von fröhlichen Menschen in den Himmel geschickt, mit kleinen Zetteln und Wünschen für die beiden Hochzeiter. Der Wind trug die Ballons hoch hinauf und aus dem grünen Garten in Babelsberg über Potsdam weg in die Havellandschaft... Was für ein Kontrast zu der Demonstration des Schmerzes, die wir hier im Aida Flüchtlingslager im Palästinensergebiet haben.

Wir werden in den nächsten Tagen immer wieder mit der Frage an sie herantreten: Wie lange glauben sie, wird es brauchen, bis die Gerechtigkeit, von der alle Slogans handeln, sich durchsetzen wird. Gebt uns unsere Häuser wieder! Lasst uns zurückkehren in unsere Dörfer! Anerkennung und Wiedergutmachung des Unrechts an Palästinensern gegen die Anerkennung Israels! Gebt uns Gerechtigkeit und ihr werdet Frieden finden! Das sind die Slogans dieser Tage.

Zwei kleine Jungs streiten sich, weil sich ihre Bündel Ballons verhakt haben, sie werden handgreiflich, eine ältere Schwester greift ein und schlägt vor, dass sie ihre verhakten Bündel zur gleichen Zeit los lassen. Das tun sie. Ein dicklicher Junge versucht, mit seinen Ballons hoch zu springen und zu fliegen, was Lachen bei den Umstehenden auslöst. Ein älterer Mann, der mit anderen Männern an einer Mauer lehnt, fängt einen Ballon auf, der schlapp gemacht und abgesunken ist. Verlegen macht er drei Schritte auf die Kinder zu und gibt seinen Fang an sie ab. Unter dem riesigen Schlüssel haben sich die größeren Jungs mit Fahnen versammelt, sie tanzen und singen. Auch eine Doppelreihe Mädchen hat sich zum Tanz bereit gemacht, die Gesichter leuchten, die Fahnen flattern im Wind. Es ist eine große Stimmung. Ich glaube, diese Kinder werden sich noch als Erwachsene an diesen Tag und die Aktion mit den schwarzen Luftballons erinnern. Hoffentlich haben sie dann bessere Aussichten auf ein Leben in Gerechtigkeit und Frieden, als ihre Eltern es heute haben. Hoffentlich findet der Schlüssel– der die Inschrift trägt: „nicht zum Verkauf“ – seine Tür zur Gerechtigkeit und schließt sie auf.