Sunday, December 10, 2006

flower power

Flower power

Wer kennt sie noch, die Zeit, in der junge Menschen sich dem Dogma der Abschreckungsstrategen entgegen gestellt und Blumen an Soldaten verschenkt haben? Die Macht der Blumen – das war ein Slogan gegen den kalten Krieg und ein Bekenntnis zum Leben. Vor einigen Tagen habe ich eine Demonstration beobachtet, die unter dem Titel „Blumen Pflücken“ veranstaltet wurde. Gemeint war eine Blume, die zum Beginn der Regenzeit blühen müsste, eine gelbe Krokusart mit dem hebräischen Namen Chelmonit. Gepflückt oder gesucht werden sollte die Blume in einem Tal unterhalb Jerusalems, im Osten, wo die Berge wüst sind und zum Toten Meer hin abfallen. Auf dieser Höhe hat das Tal einen schmalen fruchtbaren Talboden. Und hier fängt das Problem an.
Beiderseits des Tals liegen kleine palästinensische Dörfer, Um Tuba und Al Khas auf der einen und An Nu’man auf der andern Seite. Im Talboden teilen sich die Familien dieser drei Dörfer die fruchtbaren Felder. Wunderschöne Olivenbäume und einige kleinere Gemüsegärten sind dort angelegt. Die Olivenhaine sind jetzt sorgfältig gepflügt und zeigen, was für schöne rotbraune Erde dort aufgeschwemmt ist. Ringsum die Hänge sind steinig und nur hier und da von niedrigem Buschwerk aufgelockert. Einige Familien leben von den Feldern dort unten am Talgrund.
Die Demonstranten kommen von außerhalb, zum Blumenpflücken, wie sie sagen. Sie sind Bewohner eines Settlements und sie wollen bis zu den Feldern laufen. Allerdings werden sie auch dort die gelb blühenden Chelmonit nicht finden. Das ist nur der Name, den sie ihrem Protest geben wollen, weil sie dann keine polizeiliche Genehmigung brauchen. Sie wollen den Ausbau einer Schnellstraße fordern, die ihr Settlement außerhalb Jerusalems mit den großen Settlements innerhalb der Grenzen Jerusalems, Har Homa und Har Gilo, verbinden soll. Ich muss hier das Wort „Settlement“ verwenden, weil kein deutsches Wort die Bedeutung wiedergeben würde, die dieses Wort hierzulande hat.




Aber d ie Settlements sollen nicht Thema dieses Berichts sein, sondern die Straße. Eine Schnellstraße, breit soll sie sein, den Personen- und Güterverkehr soll sie aufnehmen und eine große Kontrollanlage muss sie haben, denn hier muss sie die Grenze zwischen der Westbank und dem annektierten Ostjerusalem überschreiten. Die Kontrollanlage wird schon sichtbar. Aber die Straße endet bislang an dem fruchtbaren Talgrund. Noch stehen die gut gepflegten Olivenbäume, geschützt von der Sperranlage, die hier als Zaun durch das Bergland verläuft.

Es geht also um eine Straße. Und darum, dass die Dörfer mit dieser Straße noch mehr als jetzt schon voneinander getrennt werden. Die jüdischen Siedler wollen ihre Straße. Die großen Planer wollen mehr: Sie wollen die jüdischen Siedlungen außerhalb Jerusalems mit denen innerhalb verbinden. Sie wollen ein Straßennetz schaffen, mit dem das Palästinenserland hier faktisch zerstückelt wird. Dann können die Siedler aus dem jüdischen Bergland in 10 Minuten in Jerusalem sein. Die Siedlungen können dann weiter wachsen. Gut für die Siedler. Darum sind sie heute unterwegs.

Wir stehen an diesem einsamen Kontrollpunkt und versuchen, uns das Szenario vorzustellen, wie die Demonstration ablaufen, wie sie von der Polizei gelenkt werden und wie sie von den Dorfbewohnern beantwortet werden wird. Wir sind drei Ökumenische Freiwillige aus Jerusalem und zwei aus Bethlehem. Wir begleiten heute die vier Vertreter von Ta’ayush, einer Organisation, die gefährdete palästinensische Dörfer schützen will. Es sind Efrat, Amiel, Juri und Tamar. Wir kennen sie von anderen Aktionen. Bevor wir in das Tal gegangen sind, wo die „Grenzstation“, die Straße und die Felder sind, haben wir uns mit den Dorfbewohnern von An Nu’man unterhalten, das heißt, mit ihrem Sprecher, Jussuf. Und von diesem Dorf muss ich auch erzählen, damit die Demonstration der Siedler, die nicht Blumen, sondern ihre Straße wollen, in ihrem ganzen Zusammenhang erscheint.

Das Dorf An Nu’man gehört zur Westbank, zum Bethlehemer Bezirk. Aber die Sperranlage, die weder auf der Grünen Linie, der Grenze von 1967, noch nach Sicherheitsgesichtspunkten gebaut worden ist, hat diesen Ort Jerusalem zugeordnet. Das Dorf, die Häuser und die Felder liegen im annektierten Jerusalem, also in Israel. Die Bewohner haben aber grüne Ausweise, die sie der Westbank zuordnen. Tatsächlich werden sie eingeordnet als Palästinenser, die illegal in Israel wohnen. Aber die Häuser, in denen sie wohnen, gehören ihnen. Sie sollen umgesiedelt werden, so sagt ein Gerücht. Die Kinder müssen durch die Grenzkontrolle zur Schule in Al Khas gehen. Einkaufen dürfen sie nur den Tagesbedarf, weil Handel in diesem „illegalen“ Ort verboten worden ist. Einen Laden gibt es nicht. Zu Ärzten und Krankenhäusern würde ihr Feldweg sie in den nächsten Jerusalemer Vorort bringen. Aber dieser Feldweg ist durch eine Schranke gesperrt. Sie dürfen ihn eigentlich nicht benutzen. Aber da einige Dorfbewohner blaue Ausweise haben, also eine Jerusalemer Identität, wird ihre Fahrt nach Jerusalem geduldet. Mütter mit blauen Ausweisen bringen ihre Kinder auf diesem Weg gelegentlich nach Jerusalem, illegal, ins Krankenhaus oder zum Einkaufen. Offiziell gilt: Wird einer der Bewohner von An Nu’man krank und braucht einen Arzt oder einen Krankenwagen, muss er oder sie ins Tal gebracht werden, durch den Checkpoint und nach Bethlehem zum Arzt.

Es gibt die Geschichte von der Schafherde, die geimpft werden musste. Der Impfstoff war da, der Tierarzt und sein Helfer waren da, aber sie wurden nicht durch die Kontrolle gelassen. Am Ende mussten die Schafe ins Tal zur Grenze gebracht werden. Und auch dann ging es nicht weiter. Schließlich hat der Schafhirte aus An Nu’man jedes Schaf umständlich an die Sperranlage manövriert und der Tierarzt aus Bethlehem musste das palästinensische Schaf, das nach Ansicht der Behörden illegal im Jerusalemer Gebiet lebt, durch den Zaun hindurch impfen.

Das ist eine skurrile Geschichte, über die man lachen und den Kopf schütteln kann. Der Staat Israel als Besatzungsmacht und seine Bürokratie und die Freiheit der Soldaten zur Schikane spielen hier ein Stück, das zwischen Tragödie und Komödie changiert. Aber das Lachen vergeht dem Zuhörer, wenn er die anderen Geschichten der Dorfbewohner hört: Ein 12jähriges Mädchen musste, um von der Schule nachhause gehen zu dürfen, vor den Soldaten tanzen. Eine schwangere Frau musste ihren Bauch entblößen und zeigen, dass es ein Bauch und kein Sprengsatz war. Ein Bauer ist zusammengeschlagen und dann auf seinen Esel gebunden worden. Der Esel ist in Panik davon galoppiert und hat den Mann hinter sich hergeschleift. Der Mann hat das nicht überlebt. Leider haben diese Geschichten vor Gericht keine Beweiskraft, weil sie nur Geschichten sind, ohne Beweismaterial, Fotos, Namen. Wir haben im wunderschön angelegten kleinen Vorgarten von Jussuf gesessen, auf seinem Rasen, und haben uns die Geschichten angehört und uns gefragt, wo die Dorfbewohner ihre Angst wegen der drohenden Zwangsumsiedlung – ihr Land soll dem Ausbau des großen Settlement von Har Homa geopfert werden – und ihre Wut über die Schikanen, denen sie ausgeliefert sind, hin stecken.

Zurück zur Demonstration, die als Ausflug zum Blumenpflücken deklariert war. Unsere Partner von Ta’ayush hatten befürchtet, die Settler würden mitten durch das Dorf marschieren wollen. Darum hatten sie uns gebeten, mitzukommen, um das zu dokumentieren und um sicherzustellen, dass die Polizei die Dorfbewohner schützen würde. Aber nun waren wir beruhigt, weil die Demonstration nur unten im Tal vonstatten gehen würde. Wir standen also noch am Kontrollpunkt, um uns ein Bild vom zu erwartenden Szenario zu machen. Und hier kam das Vorspiel.

Ein Off izier kam auf uns zu, fragte, wer wir seien und was wir wollten. Er wies uns an, zu verschwinden. Efrat hatte die Sprecherrolle übernommen. Amiel übersetzte für uns. Er übersetzte das Wort verschwinden sinngemäß, es sei ein deftiges Wort gewesen. Wir gingen etwa 300 Meter zurück, vom Kontrollpunkt und von der Demonstrationsroute entfernt, denn die Weisung, hier keine Provokation für die Demonstranten zu schaffen, machte ja Sinn. Der Offizier war aber nicht zufrieden, er wollte uns ganz und gar aus der Szene heraus haben. Er gab über sein Telefon Anordnung, im Dorf oben die Schranke in 20 Minuten zu schließen. Soviel Zeit wollte er uns geben, den Hang hinauf und durch das Dorf und auf der andern Seite zu „verschwinden“. Dem widersprachen die israelischen Beobachter und verlangten eine rechtlich abgesicherte Begründung für diese Anweisung. Dem Offizier folgten nun ein halbes Dutzend Soldaten. Ich gebrauche jetzt das Wort „Soldaten“, obgleich es sich um Grenzpolizei handelte. Die Grenzpolizei ist in die Armee eingegliedert. Die jungen Männer sind in ihrer Ausrüstung und in ihrem Verhalten von Soldaten nicht zu unterscheiden. Die jungen Soldaten stellten sich in einer Kette zwischen uns und den Kontrollpunkt, während der Offizier noch mit dem Gespräch und seinen Telefonaten beschäftigt war. Wir dagegen standen sehr unmilitärisch. Vielleicht war ich am nächsten zu der Kette, mit der die Soldaten die Grenze unserer Bewegungsfreiheit anzeigen wollten. Jedenfalls beschloss einer von ihnen, sich direkt an mich heran zu stellen. Ich konnte nun sein Gewehr an meiner Seite spüren und den leichten Druck, mit dem er mir bedeuten wollte, mich weiter zurückzuziehen. Ich stand mit Blickrichtung auf den Offizier und Efrat, die noch zu verhandeln schienen. Ich musste meinen Kopf drehen und nach unten wenden, weil „mein“ Soldat kleiner war. Er trug eine Sonnenbrille und war stumm, fest entschlossen, seinen Körper sprechen zu lassen. Während ich höflich anfragte, ob Englisch eine Sprache zwischen uns sein könnte, erhöhte er den Druck indem er 10 Zentimeter vorrückte. Jetzt musste ich mich schon fast gegen ihn stemmen. Ich glaube, ich stand schief, während ich ihm weitere Angebote machte, sein Anliegen an mich in Worte zu fassen. Keiner der anderen sagte ein Wort. Es war wie auf einer Bühne, wo jeder weiß, jetzt sind Schauspieler A und B dran. Alle Anweisungen, wie wir uns gewaltlos und höflich zu verhalten hätten, gingen mir durch den Sinn. Aber eine Anweisung für diese spezielle Situation war nicht dabei. Unsere Freunde von Ta’ayush haben mir jedenfalls hinterher bescheinigt, dass ich richtig und korrekt gehandelt habe und höflich geblieben sei, nicht spöttisch und nicht eingeschüchtert. Ich hielt die einseitige Unterhaltung am Laufen und meinen schiefen Stand aufrecht. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass der Offizier sich zurück wendete, wo das Aufgebot an weiteren Fußsoldaten, Berittenen und Fahrern in den Jeeps irgendwie in Bewegung geraten war. Offensichtlich waren die Demonstranten in Sichtweite und die Soldaten wurden dort am Kontrollpunkt gebraucht. Sie zogen ab, grußlos, auch mein Soldat, mit der Versicherung von uns, wir würden die Linie, die sie uns gezeigt hatten, nicht überschreiten. Soweit das Vorspiel.
Wir hatten unsererseits den Fahrer des Kleinbusses, mit dem wir in das Dorf An Nu’man gekommen waren, nach oben geschickt, damit er den Kleinbus hinter der Schranke abstellen konnte, falls der Offizier seine Drohung wahr machen und die Schranke schließen lassen würde.
Vor uns lag der Kontrollpunkt. Die schwer mit schusssicher Weste, Helm, Funkgerät und Waffen behängten Reiter waren aufgesessen. Der Kontrollpunkt geschlossen, ein alter Mann auf einem Esel wurde noch durchgewinkt. Von rechts kamen die ersten Spaziergänger: Ausflügler in lässiger Kleidung, die Männer mit Kippa, die Frauen mit verdecktem Haar, langen Röcken und Kindern an der Hand. Einzeln kamen sie an, Erwachsene und Kinder, eine alte Frau, Väter mit Kinderwagen. Zwei oder drei Gewehre konnten wir sehen. Fetzen von Gesang wehte herüber. Eine fast friedliche Szene. Gegenüber auf dem Hang, wo das Dorf Al Khas lag, sammelten sich Zuschauer. Sie standen auf Balkonen, Dachterrassen und auf einem



Hügelvorsprung zwischen Dorf und tief gelegener Straße. Auf dem Hügelvorsprung, das waren Jugendliche. Mehr Jugendliche und Kinder liefen dort hin, vielleicht nicht nur wegen der hübschen Aussicht auf die Ausflügler unter ihnen. Würden sie Steine werfen und damit einen robusten Einsatz von Militär in ihrem Dorf riskieren? Unser Stoßgebet, das wir in den Himmel schickten, wurde erhört. Nein, sie blieben in ihrer Zuschauerrolle. Immer mehr Ausflügler oder Demonstranten liefen durch den Ausschnitt, den uns der Taleinschnitt mit Kontrollpunkt hier gab. Wir hätten gern gesehen, wieweit sie dort gehen würden, wo die Sperranlage den Olivenhain schützte. Carl, einer unserer Freiwilligen aus Bethlehem lief schnell die Straße hinauf, wo eine erhöhte Terrasse für den künftigen Terminal angelegt war und gab uns über Telefon Nachricht, dass die Demonstranten sich vor dem Zaun sammelten.
Unser Interesse konnte sich jetzt auf Al Khas, das auf dem Hang jenseits der Straße lag, konzentrieren. Die Jugendlichen hatten Fahnen in den palästinensischen Farben organisiert, die sie heftig schwenkten. Jetzt ertönte auch Musik. Sie kam offensichtlich aus den Lautsprechern der Moschee. Das hatten wir alle noch nicht erlebt. Hatten sie den Muezzin überwältigt um dort CDs mit Nationalhymne und patriotischen Liedern aufgelegen zu können? Stimmung kam auf.
Brian setzte seine Spiegelreflexkamera mit der großen Vorsatzlinse an und sah sich die Party dort drüben genauer an. Die Soldaten waren locker postiert. Aber sie schickten eine kleine Patrouille nach drüben. Zwei Soldaten marschierten die asphaltierte Straße hinauf und sich ließen auf einem Stein unterhalb vom Ortseingang nieder. Unsere israelischen Freunde von Ta’ayush bewegten die Hüften. Sie waren begeistert, weil sie die Musik aus alten Filmen kannten. Sie ließen die Hüften schwingen.

Musik vom Minarett tönte durch das Tal, wehende Fahnen und lachende Gesichter drüben und bei uns, die Pferde hinter dem Grenzzaun scharrten mit den Hufen. Und tatsächlich ließ der eine der wehrhaften Reiter sein Ross tänzeln. Und der andere tat es ihm nach. Die Siedler kamen zurück, in kleinen Gruppen oder einzeln, wie sie auch gekommen waren. Es war eine professionell durchgeführte friedliche Demonstration. Blumen hatten sie keine gefunden. Aber die Sonne schien. Und das ganze hätte eine friedliche Szene sein können.

Eine der Spaziergängerinnen brachte ein Megaphon zum Vorschein, richtete es auf uns und rief auf Englisch: „Geht nach Hause! Das hier ist unser Land! Richtet Euch in Europa mit den Arabern ein, wenn ihr sie so liebt! Das hier ist jüdisches Land!“ Das war die Stimme der Settler. Die Israelis auf unserer Seite waren sprachlos. Sie hatten kein Megaphon. Und ein Streit mit den Settlern war jedenfalls auch nicht die Aufgabe für diesen Tag.
Die Demonstration war verebbt, die Fahnen am Hang flatterten nur noch leicht im Wind, die wehrhaften Reiter stiegen ab. Und auch wir traten den Heimweg an.
Für mich war es ein Abschied aus diesem Tal. Unsere Zeit hier läuft aus. Wenn ich wieder komme, würde ich gern die Dörfer dort so vorfinden, wie sie jetzt stehen. Mit einem Talgrund, in dem der Wind durch die Olivenbäume weht. Keinen Grenzzaun, keine Mauer möchte ich dann sehen. Vielleicht Spaziergänger, die im Dorf einkehren und Tee oder arabischen Kaffee trinken. Musik könnte aus den Cafes tönen. Und dann möchte ich gerne die Chelmonit blühen sehen. Ich würde sie stehen lassen, wo sie wachsen. Und Soldaten wären ja nicht in der Nähe, denen ich sie bringen müsste. Wer kann mir sagen, wann das sein wird?


Jerusalem,
Sonntag, 10. Dezember 2006, Zweiter Advent

1 comment:

Anonymous said...

Good Job!: )