Sunday, November 26, 2006

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem

Wenn du eine Schule schließt

Ich muss meine Notizen auswerten, die vielen kleinen Zettel verarbeiten und vernichten, weil die Zeit knapp wird.

„Wenn du eine Schule schließt, machst du ein Gefängnis auf“ – mit diesem arabischen Sprichwort hat mir ein ehemaliger Lehrer der Martin-Luther-Schule in der Altstadt von Jerusalem seinen Zorn darüber beschrieben, dass diese Schule vor 7 Jahren geschlossen worden ist. Das Problem: Die wenigen lutherischen Familien, die in Ost-Jerusalem leben, müssen ihre Kinder jetzt in die lutherischen Schulen in Bethlehem schicken und weitere Wege und den Stress der Grenzkontrollen in Kauf nehmen. „Machst du ein Gefängnis auf?“. Die Perspektive für die lutherischen Kinder ist nicht die kriminelle Karriere im Gefängnis, wie die Redensart meint, sondern die Abwanderung nach Europa und Amerika. Gespräche mit Lutheranern enden oft damit, dass die Eltern mit leuchtenden Augen von ihren Kindern erzählen, die dort sind. Warum bleiben sie dort und kommen nicht zurück? Weil sie aus diesem Gefängnis raus wollen, ist die spontane Antwort. Gemeint ist Palästina und es muss für mich so klingen wie die ideologisierte Begriffswelt zur Zeit des Kalten Krieges, wo auch die DDR als Gefängnis beschrieben wurde. Darum frage ich nach: Was macht dieses Land zum Gefängnis? Wir sind hier eingeschlossen, wir brauchen Genehmigungen für den Weg zur Arbeit, für die Fahrt in das Krankenhaus, wir werden kontrolliert, wenn wir von einer Baracke zur nächsten gehen, wir sind Gefangene im eigenen Land.

Von einem Sohn habe ich gehört, der sich in eine junge Deutsche verliebt hat. Aber eine nicht genau so junge Engländerin hat ihm angeboten, ihn zu heiraten. Diese Gelegenheit hat er genutzt. Der Vater hat einen israelischen Pass, in dem als Nationalität für in angegeben ist: Jordanier, weil er zu Zeiten der jordanischen Hoheit über Ost-Jerusalem seinen ersten Pass erhalten hat. Nun hat sein Sohn Aussicht auf einen britischen Pass, in dem dann als Nationalität stehen wird: Palästinenser. Und das ist doch besser als dieses Gefängnis hier, sagt sein Vater und meint das Leben im annektierten Ost-Jerusalem.

Die nächsten Zettel. Zwischen Telefonnummern und Verabredungen stehen die kurzen Notizen. Wenn ich hier ein Gespräch anfange, stoße ich fast immer auf diese unglaublichen Geschichten…

Der Bus, in dem ich von Nablus nach Ramallah fahre, also innerhalb der Westbank unterwegs bin, wird bei einer der Straßenkontrollen, die die Armee überall im Land errichtet hat, zur Seite gewinkt. Alle Ausweise werden eingesammelt und zum Computer-Abgleich gebracht. Das kann einige Zeit dauern. Zwei Männer steigen aus und zünden sich eine Zigarette an. Ich vertrete mir die Beine und beginne ein Gespräch. Eigentlich will er nicht sprechen, er ist zu zornig, der Mann mit der Lederjacke. Dann erzählt er, dass er viermal im israelischen Gefängnis war. Es hat ihn viel Geld und Zeit und einen guten Anwalt gekosten, um von der schwarzen Liste gestrichen zu werden. Warum war er im Gefängnis? Das hat man ihm nie gesagt. Tatsache ist, dass er das erste Mal mit 14 Jahren und für ein Jahr dort war.

Einer der Studenten, die uns durch den Campus der Universität von Nablus führen, erzählt, dass bei den Kontrollen der Ausweise zunächst die letzten drei Ziffern kontrolliert werden. Seine letzten drei Ziffern sind identisch mit denen eines Mannes, den die israelische Polizei sucht. Regelmäßig wird er festgehalten, gründlich kontrolliert und aufgehalten, bis das Missverständnis geklärt ist. Weil er das nicht mehr ertragen konnte, ist er auf Umwegen von seinem Dorf in die Uni gelaufen, statt 7 km und mit 2 Busfahrten musste er nun einen mehrstündigen Umweg über 4 Dörfer nehmen, um durch einen harmlosen Kontrollpunkt in die Stadt zu kommen. Auch das hat er nicht mehr ausgehalten. Jetzt wohnt er bei Verwandten, am Stadtrand. Das Problem ist jetzt, dass die beiden Gasteltern schon alt sind und sich nicht vertragen und auch nicht streiten können… Erst hat der Student gelacht. Dann merke ich dass er richtige Probleme hat und am Ende seiner Kräfte ist. Er kann erst wieder lachen, als er bei dem Gedanken ankommt, dass er im Stillen wünscht, der Mann mit der ähnlichen Ausweisnummer möge doch bald erwischt werden, damit er diese Verwechslung los ist.

Der Barbier von Al Khalil, der mir Haare und den Bart stutzt, zeigt mir stolz seine Diplome, die ihn als Barbier und als Karatelehrer ausweisen. Auch seine Töchter – die Fotos zeigen sie in eindrucksvollen Posen – haben seine Kunst aufgenommen. Sie haben den schwarzen Gürtel. Eigentlich will ich ihn nur für seine schnellen und erfahrenen Hände loben. Aber nun zeigt er mir mehr von seinem Leben. In der Ecke, so dass ich während der Behandlung zusehen konnte, war der Bericht von der Trauerfeier für den libanesischen Industrieminister über den Bildschirm geflimmert. Nun stehe ich mit meinem Barbier in der Ecke, weil hinter dem Fernseher die Fotos aus dem Libanon zu betrachten sind. Er war im Libanon? Ja, erzählt er, aber nicht freiwillig. Ob ich nicht die Zelte dort auf dem Foto sehen kann. Tatsächlich ist ein Berghang zu sehen, Nebel, Zelte und ein Hocker, ein Kunde mit einem Handtuch um die Schultern darauf und dahinter mein Barbier, jünger als jetzt. Die Israelis haben uns – er macht mit zwei Händen eine schiebende Bewegung – nach Libanon. Warum? Krieg! Wann? Libanon-Krieg. Die rechte Hand macht eine rollende Bewegung, also der erste Libanonkrieg. Die Zelte hier: UNO, erläutert er. Jedenfalls macht der Meister seine Arbeit seit 26 Jahren. Und ich lobe ihn noch einmal für seine guten Augen, weil er sehen konnte, welchen Haarschnitt mein Kopf gebraucht hat und für seine schnellen sicheren Hände. Und bezahle einen guten Preis.

Der Soldat, der unterhalb der Treppe steht, von der die Schulkinder kommen, will mit uns sprechen. Die Schulkinder und die Lehrerinnen, die auf diesem Weg oft von den Kindern der jüdischen Siedler angegriffen werden – erst vor einigen Tagen ist dabei eine junge schwedische Friedensaktivistin böse verletzt worden – sind heute heil und unbeschadet diese Treppe runter gegangen. Der Soldat steht unten, er hat die Begleitaktion unserer Freiwilligen beobachtet. Ich lese die Gedenktafel, auf der die Geschichte eines Massakers an Juden der Gemeinde von Hebron vor 77 Jahren beschrieben wird. Ich verpasse den Anfang des Gesprächs, will mich auch nicht neugierig einmischen. Der Soldat kennt die beiden anderen Freiwilligen, die zum Hebron-Team gehören. Ich bin fremd. Schließlich aber muss ich doch zuhören. Er ist nicht glücklich in seiner Uniform. Er sei sehr links eingestellt, beschreibt er sein Problem. Er arbeite in seiner Freizeit in einer Organisation, die Bildungsangebote für palästinensische Kinder macht. Und hier muss er stehen und die radikal-zionistischen Siedler beschützen. Dabei brauchen doch die palästinensischen Kinder Schutz. Wir wollen fragen, wie seine Kameraden sein politisches Engagement sehen. Aber der Soldat muss zum Feldtelefon gehen, das laut klingelt. Wir finden, es ist nicht passend, wenn wir stehen bleiben und auf einer Fortsetzung des Gespräches bestehen und gehen weiter.

Abu Tobi hat mir eine Mail geschrieben. Er heißt nicht Abu Tobi, das wäre sein Name, wenn er Araber wäre. Abu Tobi ist aber Israeli. Ich muss ihm antworten und werde dann auch mit Abu Tobi unterschreiben. Denn das ist es, was wir gemeinsam haben: Unser erster Sohn heißt Tobi und das würde uns in der arabischen Gesellschaft den Ehrennamen „Vater von Tobi“ eintragen. Der Unterschied ist, dass sein Sohn im letzten Libanon-Krieg gefallen ist. Meiner lebt und hat gerade eben seine Arbeitserlaubnis in Israel gekriegt. Abu Tobi, nicht ich, der israelische, ist in einer der Friedensgruppen aktiv und fest entschlossen, seine Aktivität dort fortzusetzen. Er arbeitet mit anderen Eltern, israelischen und palästinensischen, die ebenfalls einen Sohn oder andere Tote in ihrer Familie zu beklagen haben. Abu Tobi, ich bleibe für diese kurze Notiz bei dem Synonym, beanstandet an unserem Programm, dass es einseitig die Position der Palästinenser aufnehme; dass es von der “illegalen Besatzung“ und der „Gewalt der Besatzung“ spreche, die sichtbar gemacht werden solle. Ich werde mir Mühe geben und die Gewalt aufspüren, die von den militanten Palästinensern ausgeht.

Gutä Aben!, begrüßt mich der Taxifahrer, ich meine den Fahrer eines Sammeltaxe, Servis genannt. Er hat an der Bushaltestelle angehalten und mich eingeladen. Zwei Fahrgäste sitzen schon drin. Ich reiche die drei Schekel rüber, die in diesem Fall zu entrichten sind. Wie kommen Sie darauf, dass ich Deutscher bin?, frage ich. Ich habe Sie doch schon einmal gefahren… Wir werden öfter so angesprochen. Einmal habe auch ich einen Busfahrer wieder erkannt, weil er über der Frontscheibe Banknoten aus verschiedenen Ländern, eine besonders große mit dem Porträt von Saddam Hussein hatte. Dieser Taxifahrer stellt mir die Mitfahrer vor. Rechts von ihm sitzt sein Neffe, der in der Al Aqsa Moschee als Wärter arbeitet. Ich nehme das Gesprächsangebot an und frage ihn darüber aus. Aber ich mache einen Fehler. Ich biete dem Wächter an, ihn in meine Kirche mitzunehmen. Jetzt werden sie alle lebhaft. Hier kannst du in jede Moschee gehen und beten oder still sitzen! Das ist nicht der Punkt. Aber die Al- Aqsa Moschee ist Ziel der radikalen Juden, die uns die Moschee nicht lassen wollen... Ich kriege eine ganze Salve von Ereignissen und Befürchtungen zu hören, warum die Al-Aqsa Moschee zu Gebetszeiten nur für Muslime zugänglich ist. Und natürlich kann ich rein, wenn ich will: am frühen Vormittag, außer an Freitagen. Der Taxifahrer will mich zum Neuen Tor bringen, weit über seine Tarifzone hinaus. Er will weiter reden. Aber ich will beim Damaskus Tor raus und er verabschiedet mich mit drei Handschlägen, um den heftigen Disput auszugleichen. Gutä Aben! Masa lkheer!

So, ich kann wieder einige Zettel, die ich nur wegen der an die Ränder geschmierten Stichworte aufgehoben habe, wegschmeißen. Aber was mache ich mit den Bildern und den Gedankensplittern, die sich im Kopf festsetzen; die mich bis in meine Träume begleiten. Was meinst Du, Leser, soll ich damit machen?

26.11.2006

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