Friday, December 15, 2006

Abschied aus Jerusalem

Abschied von Jerusalem
15. Dezember 06

Wie immer bei Abschieden sind es die unerwarteten Ereignisse, die uns ans Herz gehen. Auf vieles sind wir vorbereitet, das soll uns nicht aus der Fassung bringen. Aber da sitze ich im Bus. Zwei Reihen vor mir schauen zwei kleine Augen zwischen den Rücksitzen zu mir. Ein Kindergesicht, für mich nur im Ausschnitt zu sehen. Das Kind tut, was seine Mutter nie tun würde: Starrt mich unverwandt an. Ich zwinkere mit den Augen. Das Kind lacht. Die Mutter sagt was, die Augen werden zurückgezogen. Sie kommen wieder, erwartungsvoll. Ich bewege zwei Finger und die Augen wandern jetzt zwischen meiner Hand und meinem Gesicht hin und her. Es sind wunderschöne Augen, mandelförmig, braun und neugierig. Sie lassen mich nicht los. Und da passiert es: Mir wird klar, wie viel mir fehlen wird, wenn diese Busfahrten, die Wege, die ich gegangen bind, diese Stadt nur noch ein Stück meiner Vergangenheit sein werden. Sie werden mir fehlen, die Menschen, denen ich hier begegnet bin.

Oder ich stehe, um ungestört telefonieren zu können, über dem Hang mit den Olivenbäumen, das Gästehaus hinter mir. Es ist Abend. Die Lichter der östlichen Vorstädte fließen hinunter, in die Richtung des Toten Meeres. Und weit weg und hoch am Himmel, den Sternen näher als der Stadt, werden dünne Streifen von Lichtern erkennbar. Dort oben, jenseits des Jordangrabens, auf den Bergen Moabs, leben auch Menschen, Nachbarn der Israelis und der Palästinenser. Es ist wie ein Gleichnis, das zeigen will, dass auch über der tiefsten Depression, wie die Geologen das Tal 400 Meter unter Meeresspiegel nennen, ein Leben ist, Licht, das von Leben zeugt. Ein schmerzhaftes und versöhnliches Gleichnis. Es fällt mir schwer, es zurück zu lassen.

Am Morgen steige ich endlich auf den Turm der Auferstehungskirche, der mich von Anfang an gerufen hat. Er bildet den höchsten Punkt von Jerusalem und lässt einen weit in die Runde blicken. Ich sehe mich um, in alle Himmelsrichtungen. Bis Ramallah im Norden und bis Bethlehem im Süden kann ich sehen. Großstadt, Vorstädte, all das Chaos einer zu schnell gewachsenen Stadt und Wüste, gelbes Hügelland, das hinab fließt, baum- und strauchlos, karg und schön. Vom Küstenland im Westen, in dem mein Sohn heute Geburtstag feiert, sehe ich nur den Dunst. Aber ich sehe auch den Kontrollpunkt, an dem wir so oft gestanden und gebangt haben, ob die Patienten, die Männer in Arbeitskleidung, die Pilger, die zum Gebet in die Heilige Stadt wollten, ob wir selbst durch gelassen werden. Ich sehe die Soldaten vor mir und spüre das innere Bangen, ob sie gleich ihr freundliches oder ihr angst besetztes Gesicht zeigen. Und ich sehe die Ruinen unter mir, in der letzten Straße vor dem Zaun, der hier bald durch die Mauer ersetzt sein wird.

Diese Ruinen sind frisch. Ihr Anblick bringt mir die Verwirrung meiner Gefühle ins Bewusstsein. Ich war dabei, als dieses Haus abgerissen wurde, als die Soldaten mit ihrem Bulldozer abgezogen wurden, als die Familie zurückkehren konnte. Ich habe Fotos von der Zerstörung gemacht, von den Möbeln und Gerätschaften, die in aller Eile aus dem Haus geräumt und in eine Ecke des Hofes getragen worden waren. Ein Foto ist dabei von der Waschmaschine, in der die Wäsche noch auf den nächsten Waschgang wartet. Wo wird diese Familie Weihnachten feiern? Wem helfen meine Tränen, die der Wind hier oben auf dem Turm der Auferstehungskirche trocknet?

Weihnachten. Ich werde zuhause sein. Aber die Fragen werde ich mitnehmen: Ist Jesus in einer Ruine geboren worden? Oder im Zeitoon-Kontrollpunkt, auf der Durchreise zum Auguste-Viktoria-Krankenhaus, wo die Mutter zu lange warten musste? Solche Fälle hat es gegeben. Sind die Hirten einem Licht gefolgt, das sie für einen Stern hielten und das sie dann zum Gottes- und Menschensohn geführt hat, zu einer unvermuteten Behausung in der lebensfeindlichen Nacht? Und hatte Jesus nicht auch diese schönen Augen, die uns aus den Gesichtern der Kinder hier entgegenblicken, mandelförmig, braun, neugierig und bereit, zu lachen?

Ich werde Weihnachten zuhause feiern. Aber ich werde auch predigen. Ich werde meine Rundumsicht vom Ölberg mitnehmen. Die Geburt Jesu, denke ich, öffnet uns jedes Jahr einen neuen Blick auf unser eigenes Leben und auf das unserer Mitmenschen. Sie lässt uns unsere eigene Geburt und die unserer Kinder in einem neuen Zusammenhang sehen. Das kostbare neue Leben, das uns in der Weihnachtsgeschichte gezeigt wird, weckt unsere Liebe und Fürsorge und unsere Erwartung neu. Das Elend, das wir sehen, wird zur Herausforderung, nicht zur Verzweiflung. So ein Weihnachtsfest braucht dieses Land.

Weihnachten heißt im Arabischen: Eid il-mil’ad, Fest der Geburt. Normalerweise braucht das Wort „Geburt“ keinen Artikel. Aber „die“ Geburt, il-mil’ad, ist die Geburt Gottes. In diesem Sinne werde ich Menschen auch zuhause in Deutschland zurufen können: Eid il mil’ad sa’id – Ein glückliches Fest der Geburt!

Sunday, December 10, 2006

flower power

Flower power

Wer kennt sie noch, die Zeit, in der junge Menschen sich dem Dogma der Abschreckungsstrategen entgegen gestellt und Blumen an Soldaten verschenkt haben? Die Macht der Blumen – das war ein Slogan gegen den kalten Krieg und ein Bekenntnis zum Leben. Vor einigen Tagen habe ich eine Demonstration beobachtet, die unter dem Titel „Blumen Pflücken“ veranstaltet wurde. Gemeint war eine Blume, die zum Beginn der Regenzeit blühen müsste, eine gelbe Krokusart mit dem hebräischen Namen Chelmonit. Gepflückt oder gesucht werden sollte die Blume in einem Tal unterhalb Jerusalems, im Osten, wo die Berge wüst sind und zum Toten Meer hin abfallen. Auf dieser Höhe hat das Tal einen schmalen fruchtbaren Talboden. Und hier fängt das Problem an.
Beiderseits des Tals liegen kleine palästinensische Dörfer, Um Tuba und Al Khas auf der einen und An Nu’man auf der andern Seite. Im Talboden teilen sich die Familien dieser drei Dörfer die fruchtbaren Felder. Wunderschöne Olivenbäume und einige kleinere Gemüsegärten sind dort angelegt. Die Olivenhaine sind jetzt sorgfältig gepflügt und zeigen, was für schöne rotbraune Erde dort aufgeschwemmt ist. Ringsum die Hänge sind steinig und nur hier und da von niedrigem Buschwerk aufgelockert. Einige Familien leben von den Feldern dort unten am Talgrund.
Die Demonstranten kommen von außerhalb, zum Blumenpflücken, wie sie sagen. Sie sind Bewohner eines Settlements und sie wollen bis zu den Feldern laufen. Allerdings werden sie auch dort die gelb blühenden Chelmonit nicht finden. Das ist nur der Name, den sie ihrem Protest geben wollen, weil sie dann keine polizeiliche Genehmigung brauchen. Sie wollen den Ausbau einer Schnellstraße fordern, die ihr Settlement außerhalb Jerusalems mit den großen Settlements innerhalb der Grenzen Jerusalems, Har Homa und Har Gilo, verbinden soll. Ich muss hier das Wort „Settlement“ verwenden, weil kein deutsches Wort die Bedeutung wiedergeben würde, die dieses Wort hierzulande hat.




Aber d ie Settlements sollen nicht Thema dieses Berichts sein, sondern die Straße. Eine Schnellstraße, breit soll sie sein, den Personen- und Güterverkehr soll sie aufnehmen und eine große Kontrollanlage muss sie haben, denn hier muss sie die Grenze zwischen der Westbank und dem annektierten Ostjerusalem überschreiten. Die Kontrollanlage wird schon sichtbar. Aber die Straße endet bislang an dem fruchtbaren Talgrund. Noch stehen die gut gepflegten Olivenbäume, geschützt von der Sperranlage, die hier als Zaun durch das Bergland verläuft.

Es geht also um eine Straße. Und darum, dass die Dörfer mit dieser Straße noch mehr als jetzt schon voneinander getrennt werden. Die jüdischen Siedler wollen ihre Straße. Die großen Planer wollen mehr: Sie wollen die jüdischen Siedlungen außerhalb Jerusalems mit denen innerhalb verbinden. Sie wollen ein Straßennetz schaffen, mit dem das Palästinenserland hier faktisch zerstückelt wird. Dann können die Siedler aus dem jüdischen Bergland in 10 Minuten in Jerusalem sein. Die Siedlungen können dann weiter wachsen. Gut für die Siedler. Darum sind sie heute unterwegs.

Wir stehen an diesem einsamen Kontrollpunkt und versuchen, uns das Szenario vorzustellen, wie die Demonstration ablaufen, wie sie von der Polizei gelenkt werden und wie sie von den Dorfbewohnern beantwortet werden wird. Wir sind drei Ökumenische Freiwillige aus Jerusalem und zwei aus Bethlehem. Wir begleiten heute die vier Vertreter von Ta’ayush, einer Organisation, die gefährdete palästinensische Dörfer schützen will. Es sind Efrat, Amiel, Juri und Tamar. Wir kennen sie von anderen Aktionen. Bevor wir in das Tal gegangen sind, wo die „Grenzstation“, die Straße und die Felder sind, haben wir uns mit den Dorfbewohnern von An Nu’man unterhalten, das heißt, mit ihrem Sprecher, Jussuf. Und von diesem Dorf muss ich auch erzählen, damit die Demonstration der Siedler, die nicht Blumen, sondern ihre Straße wollen, in ihrem ganzen Zusammenhang erscheint.

Das Dorf An Nu’man gehört zur Westbank, zum Bethlehemer Bezirk. Aber die Sperranlage, die weder auf der Grünen Linie, der Grenze von 1967, noch nach Sicherheitsgesichtspunkten gebaut worden ist, hat diesen Ort Jerusalem zugeordnet. Das Dorf, die Häuser und die Felder liegen im annektierten Jerusalem, also in Israel. Die Bewohner haben aber grüne Ausweise, die sie der Westbank zuordnen. Tatsächlich werden sie eingeordnet als Palästinenser, die illegal in Israel wohnen. Aber die Häuser, in denen sie wohnen, gehören ihnen. Sie sollen umgesiedelt werden, so sagt ein Gerücht. Die Kinder müssen durch die Grenzkontrolle zur Schule in Al Khas gehen. Einkaufen dürfen sie nur den Tagesbedarf, weil Handel in diesem „illegalen“ Ort verboten worden ist. Einen Laden gibt es nicht. Zu Ärzten und Krankenhäusern würde ihr Feldweg sie in den nächsten Jerusalemer Vorort bringen. Aber dieser Feldweg ist durch eine Schranke gesperrt. Sie dürfen ihn eigentlich nicht benutzen. Aber da einige Dorfbewohner blaue Ausweise haben, also eine Jerusalemer Identität, wird ihre Fahrt nach Jerusalem geduldet. Mütter mit blauen Ausweisen bringen ihre Kinder auf diesem Weg gelegentlich nach Jerusalem, illegal, ins Krankenhaus oder zum Einkaufen. Offiziell gilt: Wird einer der Bewohner von An Nu’man krank und braucht einen Arzt oder einen Krankenwagen, muss er oder sie ins Tal gebracht werden, durch den Checkpoint und nach Bethlehem zum Arzt.

Es gibt die Geschichte von der Schafherde, die geimpft werden musste. Der Impfstoff war da, der Tierarzt und sein Helfer waren da, aber sie wurden nicht durch die Kontrolle gelassen. Am Ende mussten die Schafe ins Tal zur Grenze gebracht werden. Und auch dann ging es nicht weiter. Schließlich hat der Schafhirte aus An Nu’man jedes Schaf umständlich an die Sperranlage manövriert und der Tierarzt aus Bethlehem musste das palästinensische Schaf, das nach Ansicht der Behörden illegal im Jerusalemer Gebiet lebt, durch den Zaun hindurch impfen.

Das ist eine skurrile Geschichte, über die man lachen und den Kopf schütteln kann. Der Staat Israel als Besatzungsmacht und seine Bürokratie und die Freiheit der Soldaten zur Schikane spielen hier ein Stück, das zwischen Tragödie und Komödie changiert. Aber das Lachen vergeht dem Zuhörer, wenn er die anderen Geschichten der Dorfbewohner hört: Ein 12jähriges Mädchen musste, um von der Schule nachhause gehen zu dürfen, vor den Soldaten tanzen. Eine schwangere Frau musste ihren Bauch entblößen und zeigen, dass es ein Bauch und kein Sprengsatz war. Ein Bauer ist zusammengeschlagen und dann auf seinen Esel gebunden worden. Der Esel ist in Panik davon galoppiert und hat den Mann hinter sich hergeschleift. Der Mann hat das nicht überlebt. Leider haben diese Geschichten vor Gericht keine Beweiskraft, weil sie nur Geschichten sind, ohne Beweismaterial, Fotos, Namen. Wir haben im wunderschön angelegten kleinen Vorgarten von Jussuf gesessen, auf seinem Rasen, und haben uns die Geschichten angehört und uns gefragt, wo die Dorfbewohner ihre Angst wegen der drohenden Zwangsumsiedlung – ihr Land soll dem Ausbau des großen Settlement von Har Homa geopfert werden – und ihre Wut über die Schikanen, denen sie ausgeliefert sind, hin stecken.

Zurück zur Demonstration, die als Ausflug zum Blumenpflücken deklariert war. Unsere Partner von Ta’ayush hatten befürchtet, die Settler würden mitten durch das Dorf marschieren wollen. Darum hatten sie uns gebeten, mitzukommen, um das zu dokumentieren und um sicherzustellen, dass die Polizei die Dorfbewohner schützen würde. Aber nun waren wir beruhigt, weil die Demonstration nur unten im Tal vonstatten gehen würde. Wir standen also noch am Kontrollpunkt, um uns ein Bild vom zu erwartenden Szenario zu machen. Und hier kam das Vorspiel.

Ein Off izier kam auf uns zu, fragte, wer wir seien und was wir wollten. Er wies uns an, zu verschwinden. Efrat hatte die Sprecherrolle übernommen. Amiel übersetzte für uns. Er übersetzte das Wort verschwinden sinngemäß, es sei ein deftiges Wort gewesen. Wir gingen etwa 300 Meter zurück, vom Kontrollpunkt und von der Demonstrationsroute entfernt, denn die Weisung, hier keine Provokation für die Demonstranten zu schaffen, machte ja Sinn. Der Offizier war aber nicht zufrieden, er wollte uns ganz und gar aus der Szene heraus haben. Er gab über sein Telefon Anordnung, im Dorf oben die Schranke in 20 Minuten zu schließen. Soviel Zeit wollte er uns geben, den Hang hinauf und durch das Dorf und auf der andern Seite zu „verschwinden“. Dem widersprachen die israelischen Beobachter und verlangten eine rechtlich abgesicherte Begründung für diese Anweisung. Dem Offizier folgten nun ein halbes Dutzend Soldaten. Ich gebrauche jetzt das Wort „Soldaten“, obgleich es sich um Grenzpolizei handelte. Die Grenzpolizei ist in die Armee eingegliedert. Die jungen Männer sind in ihrer Ausrüstung und in ihrem Verhalten von Soldaten nicht zu unterscheiden. Die jungen Soldaten stellten sich in einer Kette zwischen uns und den Kontrollpunkt, während der Offizier noch mit dem Gespräch und seinen Telefonaten beschäftigt war. Wir dagegen standen sehr unmilitärisch. Vielleicht war ich am nächsten zu der Kette, mit der die Soldaten die Grenze unserer Bewegungsfreiheit anzeigen wollten. Jedenfalls beschloss einer von ihnen, sich direkt an mich heran zu stellen. Ich konnte nun sein Gewehr an meiner Seite spüren und den leichten Druck, mit dem er mir bedeuten wollte, mich weiter zurückzuziehen. Ich stand mit Blickrichtung auf den Offizier und Efrat, die noch zu verhandeln schienen. Ich musste meinen Kopf drehen und nach unten wenden, weil „mein“ Soldat kleiner war. Er trug eine Sonnenbrille und war stumm, fest entschlossen, seinen Körper sprechen zu lassen. Während ich höflich anfragte, ob Englisch eine Sprache zwischen uns sein könnte, erhöhte er den Druck indem er 10 Zentimeter vorrückte. Jetzt musste ich mich schon fast gegen ihn stemmen. Ich glaube, ich stand schief, während ich ihm weitere Angebote machte, sein Anliegen an mich in Worte zu fassen. Keiner der anderen sagte ein Wort. Es war wie auf einer Bühne, wo jeder weiß, jetzt sind Schauspieler A und B dran. Alle Anweisungen, wie wir uns gewaltlos und höflich zu verhalten hätten, gingen mir durch den Sinn. Aber eine Anweisung für diese spezielle Situation war nicht dabei. Unsere Freunde von Ta’ayush haben mir jedenfalls hinterher bescheinigt, dass ich richtig und korrekt gehandelt habe und höflich geblieben sei, nicht spöttisch und nicht eingeschüchtert. Ich hielt die einseitige Unterhaltung am Laufen und meinen schiefen Stand aufrecht. Aus dem Augenwinkel konnte ich sehen, dass der Offizier sich zurück wendete, wo das Aufgebot an weiteren Fußsoldaten, Berittenen und Fahrern in den Jeeps irgendwie in Bewegung geraten war. Offensichtlich waren die Demonstranten in Sichtweite und die Soldaten wurden dort am Kontrollpunkt gebraucht. Sie zogen ab, grußlos, auch mein Soldat, mit der Versicherung von uns, wir würden die Linie, die sie uns gezeigt hatten, nicht überschreiten. Soweit das Vorspiel.
Wir hatten unsererseits den Fahrer des Kleinbusses, mit dem wir in das Dorf An Nu’man gekommen waren, nach oben geschickt, damit er den Kleinbus hinter der Schranke abstellen konnte, falls der Offizier seine Drohung wahr machen und die Schranke schließen lassen würde.
Vor uns lag der Kontrollpunkt. Die schwer mit schusssicher Weste, Helm, Funkgerät und Waffen behängten Reiter waren aufgesessen. Der Kontrollpunkt geschlossen, ein alter Mann auf einem Esel wurde noch durchgewinkt. Von rechts kamen die ersten Spaziergänger: Ausflügler in lässiger Kleidung, die Männer mit Kippa, die Frauen mit verdecktem Haar, langen Röcken und Kindern an der Hand. Einzeln kamen sie an, Erwachsene und Kinder, eine alte Frau, Väter mit Kinderwagen. Zwei oder drei Gewehre konnten wir sehen. Fetzen von Gesang wehte herüber. Eine fast friedliche Szene. Gegenüber auf dem Hang, wo das Dorf Al Khas lag, sammelten sich Zuschauer. Sie standen auf Balkonen, Dachterrassen und auf einem



Hügelvorsprung zwischen Dorf und tief gelegener Straße. Auf dem Hügelvorsprung, das waren Jugendliche. Mehr Jugendliche und Kinder liefen dort hin, vielleicht nicht nur wegen der hübschen Aussicht auf die Ausflügler unter ihnen. Würden sie Steine werfen und damit einen robusten Einsatz von Militär in ihrem Dorf riskieren? Unser Stoßgebet, das wir in den Himmel schickten, wurde erhört. Nein, sie blieben in ihrer Zuschauerrolle. Immer mehr Ausflügler oder Demonstranten liefen durch den Ausschnitt, den uns der Taleinschnitt mit Kontrollpunkt hier gab. Wir hätten gern gesehen, wieweit sie dort gehen würden, wo die Sperranlage den Olivenhain schützte. Carl, einer unserer Freiwilligen aus Bethlehem lief schnell die Straße hinauf, wo eine erhöhte Terrasse für den künftigen Terminal angelegt war und gab uns über Telefon Nachricht, dass die Demonstranten sich vor dem Zaun sammelten.
Unser Interesse konnte sich jetzt auf Al Khas, das auf dem Hang jenseits der Straße lag, konzentrieren. Die Jugendlichen hatten Fahnen in den palästinensischen Farben organisiert, die sie heftig schwenkten. Jetzt ertönte auch Musik. Sie kam offensichtlich aus den Lautsprechern der Moschee. Das hatten wir alle noch nicht erlebt. Hatten sie den Muezzin überwältigt um dort CDs mit Nationalhymne und patriotischen Liedern aufgelegen zu können? Stimmung kam auf.
Brian setzte seine Spiegelreflexkamera mit der großen Vorsatzlinse an und sah sich die Party dort drüben genauer an. Die Soldaten waren locker postiert. Aber sie schickten eine kleine Patrouille nach drüben. Zwei Soldaten marschierten die asphaltierte Straße hinauf und sich ließen auf einem Stein unterhalb vom Ortseingang nieder. Unsere israelischen Freunde von Ta’ayush bewegten die Hüften. Sie waren begeistert, weil sie die Musik aus alten Filmen kannten. Sie ließen die Hüften schwingen.

Musik vom Minarett tönte durch das Tal, wehende Fahnen und lachende Gesichter drüben und bei uns, die Pferde hinter dem Grenzzaun scharrten mit den Hufen. Und tatsächlich ließ der eine der wehrhaften Reiter sein Ross tänzeln. Und der andere tat es ihm nach. Die Siedler kamen zurück, in kleinen Gruppen oder einzeln, wie sie auch gekommen waren. Es war eine professionell durchgeführte friedliche Demonstration. Blumen hatten sie keine gefunden. Aber die Sonne schien. Und das ganze hätte eine friedliche Szene sein können.

Eine der Spaziergängerinnen brachte ein Megaphon zum Vorschein, richtete es auf uns und rief auf Englisch: „Geht nach Hause! Das hier ist unser Land! Richtet Euch in Europa mit den Arabern ein, wenn ihr sie so liebt! Das hier ist jüdisches Land!“ Das war die Stimme der Settler. Die Israelis auf unserer Seite waren sprachlos. Sie hatten kein Megaphon. Und ein Streit mit den Settlern war jedenfalls auch nicht die Aufgabe für diesen Tag.
Die Demonstration war verebbt, die Fahnen am Hang flatterten nur noch leicht im Wind, die wehrhaften Reiter stiegen ab. Und auch wir traten den Heimweg an.
Für mich war es ein Abschied aus diesem Tal. Unsere Zeit hier läuft aus. Wenn ich wieder komme, würde ich gern die Dörfer dort so vorfinden, wie sie jetzt stehen. Mit einem Talgrund, in dem der Wind durch die Olivenbäume weht. Keinen Grenzzaun, keine Mauer möchte ich dann sehen. Vielleicht Spaziergänger, die im Dorf einkehren und Tee oder arabischen Kaffee trinken. Musik könnte aus den Cafes tönen. Und dann möchte ich gerne die Chelmonit blühen sehen. Ich würde sie stehen lassen, wo sie wachsen. Und Soldaten wären ja nicht in der Nähe, denen ich sie bringen müsste. Wer kann mir sagen, wann das sein wird?


Jerusalem,
Sonntag, 10. Dezember 2006, Zweiter Advent

Monday, December 04, 2006

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem


Anife – Latife
Für das letzte Stück Weg brauchen wir immer das Telefon. Wir sind an der richtigen Kreuzung aus dem richtigen Bus gestiegen, der richtigen Straße gefolgt und den Hang abwärts gelaufen. Nach 20 Minuten haben wir die Straßensperre mit der Grenzkontrolle erreicht und sie passiert.

Wir sind jetzt im Flüchtlingslager Shu’fat und wissen, dass dies einer der gefährlichsten Orte Jerusalems ist. Wer hat den Kontakt, fragt Brian. Ich hole mein Telefon raus und rufe Diyala an, die Sozialarbeiterin, mit der wir reden wollen. Ihr Telefon ist besetzt. Wir gehen tiefer in das Wohngebiet hinein und versuchen, möglichst sicher zu wirken. Wir tragen unsere Westen mit dem Logo des Ökumenischen Friedensprogramms. Diyala ruft zurück und dirigiert uns. An der besagten Kreuzung, wo der große Gemüseladen ist, will sie uns weitere Weisung geben. Ich halte das Telefon am Ohr und bin schon über die Kreuzung nach links gegangen, Carol ist hinter mir mitten auf der Kreuzung, Kristine und Brian sind am Gemüseladen stehen geblieben. Vor mir bauen sich vier Jugendliche auf. Warum kommen die anderen nicht? Ich wende mich zurück und sehe, dass Kristine von einer Frau mit Kuss auf die Wangen, links und rechts, begrüßt wird. Wen trifft Kristine hier mitten im Flüchtlingslager? Die Frau begrüßt die anderen, Brian mit Handschlag und am Ende auch mich, der zum Gemüseladen zurückgekommen ist. „Sie müssen Gottfried sein“, sagt die Frau. „Dann sind Sie Diyala“, kann ich antworten und das Telefon in die Tasche stecken.

Diyala bringt uns in das Gesundheitszentrum, das von der UN Flüchtlingsbehörde betrieben wird. Hier hat sie ihr Zimmer, hier bietet in dem sie sozial-psychologische Beratung an. Sie führt uns durch das Zentrum, in dem Ärzte und Schwestern ihre Arbeit machen, in viel zu kleinen Räumen, mit zu vielen Patienten, zu früh gealterten Männern und Frauen und Müttern mit Säuglingen. Der Rundgang hat mehr den Zweck, jedem zu zeigen, wer wir sind und zu erklären, was sie mit uns, den Fremden, hier zu tun hat.

Das Flüchtlingslager ist als Zeltstadt 1966 von der Jordanischen Behörde für 17.000 Flüchtlinge bzw. Vertriebene eingerichtet worden. Damals musste ein Stück Innenstadt von Jerusalem aus hygienischen Gründen geschlossen werden. Kein Mensch dachte damals daran, dass das Lager eine Dauereinrichtung mit festen Häusern und der Perspektive für lebenslanges Elend würde. Die Flüchtlinge, genauer gesagt, die Bewohner der zweite Generation haben kleine Häuser vorgefunden, Wohnungen über den kleinen Häusern und allmählich dreistöckige Häuser gebaut. Ein Hausungetüm haben wir besichtigt, in dem sich 17 Wohnungen befinden. Entsprechend sieht die Stadtstruktur im Lager aus: Um zwei Hauptstraßen, in denen auch Autos und Busse fahren, fügen sich Gassen, die manchmal weniger breit als ein Meter sind. Die Infrastruktur in dieser „Stadt“ spottet aller Beschreibung. Müll liegt überall, Kabel hängen planlos von Häuserwänden, die Stadt stinkt. Nachbarn schauen sich über die Gasse in die Wohnungen oder hören einander und werden gehört, auch wo sie lieber ganz unter sich sein wollen. Eine Frau, erzählt Diyala, kommt zu ihr, weil sie mit ihrem Ehemann kein Stück Intimität teilen kann. In den letzten Jahren sind neue Bewohner in das Camp eingedrungen, Leute, die aus Ost-Jerusalem ausgezogen sind, wo das Leben für sie zu teuer geworden ist. Nun ist die Stadt nicht nur unsäglich überfüllt, sondern hat ihre soziale Struktur verloren. Wo sich die Familien vorher kannten, wo soziale Kontrolle und gegenseitige Hilfe funktioniert haben, stellen sich jetzt alle Nachteile einer anonymen Urbanität ein. Die Jugendlichen und die Kinder folgen nicht mehr den tradierten Verhaltensregeln, wo zum Beispiel Frauen und Mädchen auch in der Öffentlichkeit Schutz genießen und nicht einmal angesprochen, geschweige denn berührt werden dürfen. Drogen werden gehandelt und konsumiert.

Während der Intifada ist die Lager-Stadt von Drogen regelrecht überschwemmt worden. Diyala erklärt das als Strategie Israels, das Moral und Gesundheit der Jugendlichen auf diese Weise untergraben wollte. Und sie bot uns im Ernst an, die Straßensperre, an der der einzige Zugang zum Lager kontrolliert wird, zu beobachten. Dann könnten wir mit eigenen Augen sehen und mit Fotos beweisen, dass die Soldaten dort Drogen an Kinder und Jugendliche verkaufen. Es gibt, lautet die Antwort auf meine Frage, keinen Ansprechpartner, keine israelische Behörde im Lager. Die UNO hat ein Selbstverwaltungskomitee organisiert, das aber machtlos ist, besonders wo es um die Kontrolle von Drogenhandel geht. Wir haben uns bei der Militärbehörde beschwert, aber niemand reagiert darauf, sagt sie.

Wir sitzen eng in der Kammer, die Diyala als Beratungszimmer dient. Wir essen von dem Obst und Gemüse, das sie im Laden an der besagten Kreuzung gekauft und das sie dann gewaschen, geschnitten und uns als „Frühstück“ angeboten hat. Bei den Fällen, die sie erwähnt, um die Probleme der Lager-Stadt zu illustrieren, stockt uns der Atem. Am schwersten aber fällt uns der Bericht über den sexuellen Missbrauch auf die Seele, den sie, immer mit Fällen aus ihrer Praxis, gibt. Mädchen und Jungs werden sexuell missbraucht, die Mädchen in den Wohnungen und die Jungs hinter den Bäumen, die unten am Hang, am Lagerrand stehen. Frauen werden geschlagen und Mütter sind nicht in der Lage, ihre Töchter zu schützen.

Diyala nimmt uns mit in die Mädchenschule. Hier gibt sie regelmäßig, einmal die Woche, sexuellen Aufklärungsunterricht. Nicht allgemein, sondern gezielt gegen den Missbrauch dieser Mädchen, die sie hier in der Schule vor sich hat. Wir glauben es kaum, die Direktorin, die wir als erstes in der Schule begrüßen müssen, führt uns – nicht in die fünfte oder sechste, sondern in die erste Klasse.

37 Mädchen im Alter zwischen 6 und 7 Jahren sitzen hier eng in der Klasse. Sie machen die hinteren Bänke frei, damit wir dort sitzen und zuhören können. Zunächst führt die Lehrerin ihren Unterricht fort. Sie benutzt ein Buch und lässt die Kinder eine Seite aufschlagen, auf der eine ländliche Szene mit Bäumen und Tieren dargestellt ist. Sie fragt offensichtlich: Wie viele Pferde, wie viele Hasen seht ihr? Und wir üben im Stillen mit und murmeln die richtige Zahl auf Arabisch, falls wir schneller als die Kinder sind. Und suchen in der Zahlenreihe über der Tafel die richtige arabische Ziffer aus, die von einem der Mädchen in das Kästchen an der Tafel eingetragen werden muss. Das ist eigentlich eine sehr schöne Übung für uns und nicht nur mir kommt der Gedanke, dass wir an diesem Unterricht teilnehmen könnten, weil die Lehrerin langsam und deutlich spricht und die Kinder das gemeinsam laut wiederholen, so dass wir die Vokabeln für Pferd und Hase und Hühner und natürlich für eins oder drei oder vier und so weiter lernen könnten.

Die Kinder sind sauber und hübsch angezogen, haben verschiedene sorgfältig gerichtete Frisuren für ihre langen schwarzen Haare und sie können lachen, dass einem das Herz aufgeht. Ihr Anblick ist ein Kontrast zu der Wohnsituation, in der Vernachlässigung und Armut herrschen. Der Blick aus dem Fenster fließt mit den chaotischen Häuserreihen abwärts und weiter die fernen Hügelketten hinab bis in das Jordantal, auch das ein Kontrast zwischen der herben Schönheit der Bergwüste und der unwürdigen Ansiedlung von Menschen, die niemand haben will. Die Mittagssonne leuchtet die Szene gnadenlos oder liebevoll oder gleichgültig aus, die Szene eines vergewaltigten Landes.

Die Lehrerin tritt zurück. Diyala übernimmt. Sie hat uns vorher erklärt, dass sie ihren Aufklärungsunterricht heute fortsetzen wird und zwar „über das gute und das böse Streicheln“. Sie zeigt den Kindern Zeichnungen, Kopien, die sie offensichtlich aus einem Buch hat. Es sind Zeichnungen von Mädchen, die sich in verschiedenen Situationen befinden: umarmt vielleicht vom Vater; gezerrt, vielleicht vom Bruder; in Berührung mit verschiedenen Situationen, mit Mutter, Onkel, Fremden. Die Klasse soll entscheiden, ob das Mädchen glücklich oder unglücklich aussieht, ob es sich um eine gute oder eine gefährliche Situation handelt, um eine gute oder eine böse Berührung. Die Mädchen streiten und einigen sich am Ende. „Anife“ (gut), rufen sie im Chor, oder „lanife!“ (schlecht). Diyala bestätigt das Urteil und geht weiter zum nächsten Bild.

Die Mädchen sind hoch konzentriert. Sie melden sich, wenn ein Bild nachgestellt oder gespielt werden soll, aber dann agieren sie scheu und vorsichtig. Die Klasse lacht, wenn das Rollenspiel gelingt und dankt den Akteurinnen mit Klatschen. Wir fühlen uns unwohl und werden die Angst nicht los, dass eine Situation zu dicht gerät. Immerhin sagt die Statistik, dass ein Teil dieser Mädchen von dem Missbrauch, um den es hier geht, bereits betroffen ist. Und tatsächlich steigen immer wieder Schülerinnen aus, legen ihren Kopf auf den Tisch, halten sich die Ohren zu, oder haben den abwesenden Blick. Diyala macht unbeirrt und ohne Verlegenheit zu zeigen weiter. Mit Tempo geht sie zum nächsten Thema: Mädchen im Bad. Hier heißt der Lehrsatz: Nur die Mutter darf mit der Tochter im Bad sein, keine andere Person. Der letzte Teil der, wie wir finden, langen und anspruchsvollen Unterrichtsstunde zielt geradewegs auf Situationen, in denen Mädchen sexuell berührt und belästigt werden. Sie sollen lernen, NEIN! zu sagen. Das ist schwer, weil das der arabisch-muslimischen Kultur widerspricht. Mädchen haben zu gehorchen, Vätern, Brüdern, Onkels, ohne Widerrede. Hier also ein Kulturbruch. Die Lehrerin zeigt Nervosität.
Es war warm geworden im Klassenraum, klar mit über 40 Personen und der Sonne auf den Fenstern. Diyala hatte zwischendurch Fenster und Tür zum Klassenraum geöffnet. Ein frischer Wind ist durch gezogen. Jetzt macht sie beides zu. Die Mädchen sind mucksmäuschenstill. Was hat sie vor? Sie erzählt langsam, offensichtlich malt sie eine Situation aus. Sie fordert die Mädchen auf, wie sie eben gelernt haben, zu reagieren. Also? Und ein 37-stimmiges laut geschrienes „LA!“, NEIN erschüttert den Raum.

Zumindest von uns, den Beobachtern, kann ich zu Protokoll geben, dass wir tief bewegt sind: von der Ernsthaftigkeit der Psychologin und der emotionalen Dichte mit der dieser Unterrichtsstoff von den 6 und 7 Jahre alten Mädchen verhandelt worden ist.

Wir schließen unseren Besuch im Lager von Shu’fat mit einem kleinen Rundgang ab. Wir gehen durch eine der beiden Hauptstraßen und durch einige der kleinen Gassen, die hier vor allem den Hang aufwärts führen. Wir hören den Erklärungen von Diyala zu, über die Geschichte des Lagers und immer wieder über Einzelfälle, die die Lebenssituation hier beschreiben. Als hätte es des Beweises bedurft, werden wir beworfen. Diyala kriegt einen Kiesel an den Hinterkopf, Carols Hose Teile eines rohen Eies und mein Rucksack Eseldung. Kinder, nicht Jugendliche, bewerfen uns. Sie rufen uns hinterher: What is your name? Oder einfach „Fuck you“. Diyala fasst zusammen: Seht ihr, das wollte ich euch sagen, ihr könnt hier nicht allein rum laufen und es wird eine Weile dauern, wenn einer von euch hier arbeitet, bis ihr bekannt seid und akzeptiert. Na ja, denke ich im Stillen, und es wird auch eine Weile dauern, bis wir, was es hier zu verstehen gibt, wirklich verstanden haben. Und akzeptiert. Anife und Latife.

Vorerst läuft unser Tagewerk weiter. Wir sitzen zu dritt im Bus nach Ramallah. Der Bus muss einen weiten Umweg immer östlich von Jerusalem fahren, das heißt in diesem Fall, immer ins Tal hinunter und wieder hinauf. Manchmal kommen wir der Mauer oder dem Zaun näher, dann entfernen wir uns wieder. Einmal habe ich das Gefühl, ich kann Jericho sehen. Die Fahrt beträgt normalerweise fünf Kilometer, aber mit dieser Grenze ist es mindestens das Dreifache. Ich habe das Telefon am Ohr und gebe meinem Kontakt in Ramallah bescheid, dass ich mich verspäten werde. Latife, schlecht.


Jerusalem, am 1. Advent

Sunday, November 26, 2006

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem

Wenn du eine Schule schließt

Ich muss meine Notizen auswerten, die vielen kleinen Zettel verarbeiten und vernichten, weil die Zeit knapp wird.

„Wenn du eine Schule schließt, machst du ein Gefängnis auf“ – mit diesem arabischen Sprichwort hat mir ein ehemaliger Lehrer der Martin-Luther-Schule in der Altstadt von Jerusalem seinen Zorn darüber beschrieben, dass diese Schule vor 7 Jahren geschlossen worden ist. Das Problem: Die wenigen lutherischen Familien, die in Ost-Jerusalem leben, müssen ihre Kinder jetzt in die lutherischen Schulen in Bethlehem schicken und weitere Wege und den Stress der Grenzkontrollen in Kauf nehmen. „Machst du ein Gefängnis auf?“. Die Perspektive für die lutherischen Kinder ist nicht die kriminelle Karriere im Gefängnis, wie die Redensart meint, sondern die Abwanderung nach Europa und Amerika. Gespräche mit Lutheranern enden oft damit, dass die Eltern mit leuchtenden Augen von ihren Kindern erzählen, die dort sind. Warum bleiben sie dort und kommen nicht zurück? Weil sie aus diesem Gefängnis raus wollen, ist die spontane Antwort. Gemeint ist Palästina und es muss für mich so klingen wie die ideologisierte Begriffswelt zur Zeit des Kalten Krieges, wo auch die DDR als Gefängnis beschrieben wurde. Darum frage ich nach: Was macht dieses Land zum Gefängnis? Wir sind hier eingeschlossen, wir brauchen Genehmigungen für den Weg zur Arbeit, für die Fahrt in das Krankenhaus, wir werden kontrolliert, wenn wir von einer Baracke zur nächsten gehen, wir sind Gefangene im eigenen Land.

Von einem Sohn habe ich gehört, der sich in eine junge Deutsche verliebt hat. Aber eine nicht genau so junge Engländerin hat ihm angeboten, ihn zu heiraten. Diese Gelegenheit hat er genutzt. Der Vater hat einen israelischen Pass, in dem als Nationalität für in angegeben ist: Jordanier, weil er zu Zeiten der jordanischen Hoheit über Ost-Jerusalem seinen ersten Pass erhalten hat. Nun hat sein Sohn Aussicht auf einen britischen Pass, in dem dann als Nationalität stehen wird: Palästinenser. Und das ist doch besser als dieses Gefängnis hier, sagt sein Vater und meint das Leben im annektierten Ost-Jerusalem.

Die nächsten Zettel. Zwischen Telefonnummern und Verabredungen stehen die kurzen Notizen. Wenn ich hier ein Gespräch anfange, stoße ich fast immer auf diese unglaublichen Geschichten…

Der Bus, in dem ich von Nablus nach Ramallah fahre, also innerhalb der Westbank unterwegs bin, wird bei einer der Straßenkontrollen, die die Armee überall im Land errichtet hat, zur Seite gewinkt. Alle Ausweise werden eingesammelt und zum Computer-Abgleich gebracht. Das kann einige Zeit dauern. Zwei Männer steigen aus und zünden sich eine Zigarette an. Ich vertrete mir die Beine und beginne ein Gespräch. Eigentlich will er nicht sprechen, er ist zu zornig, der Mann mit der Lederjacke. Dann erzählt er, dass er viermal im israelischen Gefängnis war. Es hat ihn viel Geld und Zeit und einen guten Anwalt gekosten, um von der schwarzen Liste gestrichen zu werden. Warum war er im Gefängnis? Das hat man ihm nie gesagt. Tatsache ist, dass er das erste Mal mit 14 Jahren und für ein Jahr dort war.

Einer der Studenten, die uns durch den Campus der Universität von Nablus führen, erzählt, dass bei den Kontrollen der Ausweise zunächst die letzten drei Ziffern kontrolliert werden. Seine letzten drei Ziffern sind identisch mit denen eines Mannes, den die israelische Polizei sucht. Regelmäßig wird er festgehalten, gründlich kontrolliert und aufgehalten, bis das Missverständnis geklärt ist. Weil er das nicht mehr ertragen konnte, ist er auf Umwegen von seinem Dorf in die Uni gelaufen, statt 7 km und mit 2 Busfahrten musste er nun einen mehrstündigen Umweg über 4 Dörfer nehmen, um durch einen harmlosen Kontrollpunkt in die Stadt zu kommen. Auch das hat er nicht mehr ausgehalten. Jetzt wohnt er bei Verwandten, am Stadtrand. Das Problem ist jetzt, dass die beiden Gasteltern schon alt sind und sich nicht vertragen und auch nicht streiten können… Erst hat der Student gelacht. Dann merke ich dass er richtige Probleme hat und am Ende seiner Kräfte ist. Er kann erst wieder lachen, als er bei dem Gedanken ankommt, dass er im Stillen wünscht, der Mann mit der ähnlichen Ausweisnummer möge doch bald erwischt werden, damit er diese Verwechslung los ist.

Der Barbier von Al Khalil, der mir Haare und den Bart stutzt, zeigt mir stolz seine Diplome, die ihn als Barbier und als Karatelehrer ausweisen. Auch seine Töchter – die Fotos zeigen sie in eindrucksvollen Posen – haben seine Kunst aufgenommen. Sie haben den schwarzen Gürtel. Eigentlich will ich ihn nur für seine schnellen und erfahrenen Hände loben. Aber nun zeigt er mir mehr von seinem Leben. In der Ecke, so dass ich während der Behandlung zusehen konnte, war der Bericht von der Trauerfeier für den libanesischen Industrieminister über den Bildschirm geflimmert. Nun stehe ich mit meinem Barbier in der Ecke, weil hinter dem Fernseher die Fotos aus dem Libanon zu betrachten sind. Er war im Libanon? Ja, erzählt er, aber nicht freiwillig. Ob ich nicht die Zelte dort auf dem Foto sehen kann. Tatsächlich ist ein Berghang zu sehen, Nebel, Zelte und ein Hocker, ein Kunde mit einem Handtuch um die Schultern darauf und dahinter mein Barbier, jünger als jetzt. Die Israelis haben uns – er macht mit zwei Händen eine schiebende Bewegung – nach Libanon. Warum? Krieg! Wann? Libanon-Krieg. Die rechte Hand macht eine rollende Bewegung, also der erste Libanonkrieg. Die Zelte hier: UNO, erläutert er. Jedenfalls macht der Meister seine Arbeit seit 26 Jahren. Und ich lobe ihn noch einmal für seine guten Augen, weil er sehen konnte, welchen Haarschnitt mein Kopf gebraucht hat und für seine schnellen sicheren Hände. Und bezahle einen guten Preis.

Der Soldat, der unterhalb der Treppe steht, von der die Schulkinder kommen, will mit uns sprechen. Die Schulkinder und die Lehrerinnen, die auf diesem Weg oft von den Kindern der jüdischen Siedler angegriffen werden – erst vor einigen Tagen ist dabei eine junge schwedische Friedensaktivistin böse verletzt worden – sind heute heil und unbeschadet diese Treppe runter gegangen. Der Soldat steht unten, er hat die Begleitaktion unserer Freiwilligen beobachtet. Ich lese die Gedenktafel, auf der die Geschichte eines Massakers an Juden der Gemeinde von Hebron vor 77 Jahren beschrieben wird. Ich verpasse den Anfang des Gesprächs, will mich auch nicht neugierig einmischen. Der Soldat kennt die beiden anderen Freiwilligen, die zum Hebron-Team gehören. Ich bin fremd. Schließlich aber muss ich doch zuhören. Er ist nicht glücklich in seiner Uniform. Er sei sehr links eingestellt, beschreibt er sein Problem. Er arbeite in seiner Freizeit in einer Organisation, die Bildungsangebote für palästinensische Kinder macht. Und hier muss er stehen und die radikal-zionistischen Siedler beschützen. Dabei brauchen doch die palästinensischen Kinder Schutz. Wir wollen fragen, wie seine Kameraden sein politisches Engagement sehen. Aber der Soldat muss zum Feldtelefon gehen, das laut klingelt. Wir finden, es ist nicht passend, wenn wir stehen bleiben und auf einer Fortsetzung des Gespräches bestehen und gehen weiter.

Abu Tobi hat mir eine Mail geschrieben. Er heißt nicht Abu Tobi, das wäre sein Name, wenn er Araber wäre. Abu Tobi ist aber Israeli. Ich muss ihm antworten und werde dann auch mit Abu Tobi unterschreiben. Denn das ist es, was wir gemeinsam haben: Unser erster Sohn heißt Tobi und das würde uns in der arabischen Gesellschaft den Ehrennamen „Vater von Tobi“ eintragen. Der Unterschied ist, dass sein Sohn im letzten Libanon-Krieg gefallen ist. Meiner lebt und hat gerade eben seine Arbeitserlaubnis in Israel gekriegt. Abu Tobi, nicht ich, der israelische, ist in einer der Friedensgruppen aktiv und fest entschlossen, seine Aktivität dort fortzusetzen. Er arbeitet mit anderen Eltern, israelischen und palästinensischen, die ebenfalls einen Sohn oder andere Tote in ihrer Familie zu beklagen haben. Abu Tobi, ich bleibe für diese kurze Notiz bei dem Synonym, beanstandet an unserem Programm, dass es einseitig die Position der Palästinenser aufnehme; dass es von der “illegalen Besatzung“ und der „Gewalt der Besatzung“ spreche, die sichtbar gemacht werden solle. Ich werde mir Mühe geben und die Gewalt aufspüren, die von den militanten Palästinensern ausgeht.

Gutä Aben!, begrüßt mich der Taxifahrer, ich meine den Fahrer eines Sammeltaxe, Servis genannt. Er hat an der Bushaltestelle angehalten und mich eingeladen. Zwei Fahrgäste sitzen schon drin. Ich reiche die drei Schekel rüber, die in diesem Fall zu entrichten sind. Wie kommen Sie darauf, dass ich Deutscher bin?, frage ich. Ich habe Sie doch schon einmal gefahren… Wir werden öfter so angesprochen. Einmal habe auch ich einen Busfahrer wieder erkannt, weil er über der Frontscheibe Banknoten aus verschiedenen Ländern, eine besonders große mit dem Porträt von Saddam Hussein hatte. Dieser Taxifahrer stellt mir die Mitfahrer vor. Rechts von ihm sitzt sein Neffe, der in der Al Aqsa Moschee als Wärter arbeitet. Ich nehme das Gesprächsangebot an und frage ihn darüber aus. Aber ich mache einen Fehler. Ich biete dem Wächter an, ihn in meine Kirche mitzunehmen. Jetzt werden sie alle lebhaft. Hier kannst du in jede Moschee gehen und beten oder still sitzen! Das ist nicht der Punkt. Aber die Al- Aqsa Moschee ist Ziel der radikalen Juden, die uns die Moschee nicht lassen wollen... Ich kriege eine ganze Salve von Ereignissen und Befürchtungen zu hören, warum die Al-Aqsa Moschee zu Gebetszeiten nur für Muslime zugänglich ist. Und natürlich kann ich rein, wenn ich will: am frühen Vormittag, außer an Freitagen. Der Taxifahrer will mich zum Neuen Tor bringen, weit über seine Tarifzone hinaus. Er will weiter reden. Aber ich will beim Damaskus Tor raus und er verabschiedet mich mit drei Handschlägen, um den heftigen Disput auszugleichen. Gutä Aben! Masa lkheer!

So, ich kann wieder einige Zettel, die ich nur wegen der an die Ränder geschmierten Stichworte aufgehoben habe, wegschmeißen. Aber was mache ich mit den Bildern und den Gedankensplittern, die sich im Kopf festsetzen; die mich bis in meine Träume begleiten. Was meinst Du, Leser, soll ich damit machen?

26.11.2006

Thursday, November 23, 2006

Ein voller Tag - Zu Besuch in Bethlehem

Ein voller Tag – zu Besuch in Bethlehem
19. November 2006

Es ist Sonntag. Ich bin zu Gast beim Bethlehem-Team. Am Abend davor war Zeit, die Wohn- und Arbeitsverhältnisse des Teams in Bethlehem kennen zu lernen. Monique hatte mich von Jerusalem aus, wo sie zu tun hatte, mitgenommen. Carl, der auch im Bethlehem-Team arbeitet, war später am Abend gekommen, mit Asa, die wie ich die-sen Besuch gemacht hat. Asa arbeitet normalerweise in Yanoun, einem kleinen Dorf, das südlich von Nablus liegt und von israelischen Siedlern bedroht ist. Die gegensei-tigen Besuche der Freiwilligen gehören zum Programm dazu. Sie sollen uns ermögli-chen, die anderen Einsatzorte kennen zu lernen, auch die unterschiedlichen Arbeits-weisen der Teams. Danach sieht jeder seine eigene Situation wieder anders, also ich meine Situation in Jerusalem, mit dem anonymen urbanen Stadtleben, den vielen öffentlichen Ereignissen und den Kontakten zu beiden, palästinensischen und israeli-schen Friedensgruppen bzw. Kooperations-Zentren; aber auch mit den geringeren sozialen oder familiären Kontakten.

Es ist also Sonntag. Wir sind früh aufgestanden, kurz nach 4 Uhr. Viertel vor 5 Uhr waren wir schon am großen Kontrollpunkt, der entweder mit der Nummer 300 angegeben wird oder mit dem Namen der nächsten israelischen Siedlung, „Gilo-Kontrollpunkt“. Den Kontrollpunkt kannte ich, ich bin schon einige Male dort durch gegangen. Jetzt war es noch dunkel. Und schon lange vor der Mauer, die hier 8 Me-ter hoch ist, standen die Männer in Arbeitskleidung, die nach Jerusalem „hinüber“ wollten. Es sind meist Männer, Frauen gehen hier offensichtlich nur in geringer Zahl über die Grenze. Wir haben die Zahl der Wartenden auf ca. 800 geschätzt. Sie ste-hen dicht, zu zweit oder dritt hintereinander, nach 100 Metern beginnt ein doppelter Gang, mit festem Metallgitter eingezäunt, für jede Richtung, nach und von Jerusa-lem. Es ist ein Gang, ein Meter breit, in dem man sich wie Vieh fühlt, das zur Schur, oder zur Waage oder zur Schlachtung geführt wird. Menschen mit Klaustrophobie müssen diese Gitter-Tunnel, die etwa 400 Meter lang sind, fürchten. Jetzt, vor 5 Uhr, ist der Weg in das Terminal hinein voll von Wartenden. Wir gehen an ihnen vorbei und stellen uns am Ende auf, wo dieTür, die in das Terminal hinein führt, geschlos-sen ist und warten. Schon bei diesem Gang an den Wartenden vorbei grüßen uns einige der Männer oder rufen uns etwas zu. Viertel nach 5 Uhr, 15 Minuten über die Zeit des Abfertigungsbeginnes hinaus, ist die Tür immer noch verschlossen. Monique telefoniert mit der Verbindungsstelle der Armee. Wieder 5 Minuten später – die Män-ner werden laut und verlangen, dass geöffnet wird – telefoniert sie mit der Komman-dozentrale im Grenzpunkt. Und da kommt ein Soldat, setzt sich in das Wachhäu-schen, das wir drinnen sehen können, und öffnet die Tür.

Wir haben uns dann auf verschiedene Abschnitte aufgeteilt. Wenn man die erste Tür in der Mauer und die Drehtür gleich dahinter mit einrechnet, muss der Passant durch fünf Türen bzw. Drehtüren gehen, die dritte ist die Sicherheitskontrolle mit den scharf eingestellten Metall-Detektoren und die fünfte ist die Personenkontrolle. Der Passant muss über einen großen Hof gehen, mit der Mauer im Rücken und dem eigentlichen Terminal vor sich. Auf der Mauer, steht in Riesenlettern: „Willkommen im Heiligen Land!“, das sieht aber nur der nach Bethlehem Reisende bzw. die zurück kehrenden Arbeiter am Abend, wenn sie nach Hause, nach Bethlehem wollen. Vor dem Termi-nal hängen nun die ersten Schilder mit Anweisungen, in der Sprache freundlich gehalten, als handle es sich um einen Gang durch ein Einkaufszentrum. Im Terminal selber „hängen“ über den Kontrollanlagen Metallgänge, auf denen gelegentlich Sol-daten stehen oder patrouillieren, schwer bewaffnet, allein oder zu zweien. Überall hängen Kameras. Der Effekt ist: dass man unvermittelt über seinem Kopf einen Sol-datenstiefel wahrnimmt und dann erinnert wird, dass die ganze Anlage eine Militäran-lage ist. Und manchmal wird man angerufen, immer in diesem überdrehten Lautsprecherton, der einen zusammen fahren lässt: Weitergehen! Zieh deine Schuhe aus! Geh zurück! Halt deinen Ausweis hoch! Und so fort.

Die Atmosphäre, die ein solches „Terminal“ ausstrahlt, ist bedrohlich und feindselig. Manchmal äußert sich einer der Palästinenser dazu. Ich werde die Studentin, die das zum ersten Mal in gutem Englisch und in sehr zurückhaltenden Worten getan hat, nicht vergessen: „Hier gehen wir von einem Teil unseres Lebens in einen anderen, von einem Teil unseres Landes in einen anderen. Bethlehem ist auch unsere Ge-burtsstadt, nicht nur die von Jesus. Und Jerusalem ist unsere Hauptstadt. Warum zwingt man uns durch diese schreckliche Anlage, die uns klein und furchtsam macht?!“

Wir zählen die offenen Fenster, die Personenkontrollen, hinter denen Ausweis und Arbeitsgenehmigungen überprüft werden. Heute sind es zwischen vier und fünf (von insgesamt acht). Manchmal wird eines geschlossen, wenn eine der meist jungen weiblichen Beamtinnen der Grenzpolizei, das Gewehr umgehängt, ihre Kabine ver-lässt, vielleicht für einen Kaffee, vielleicht für den Gang zur Toilette. Für die „Passan-ten“, die hier jeden Tag durch müssen, ist beides undenkbar, hier gibt es weder Kaf-fee noch eine Toilette. Viele trinken erst an ihrem Arbeitsplatz, weil jedes Bedürfnis, das innerhalb dieser unfreundlichen Anlage auftaucht, sehr lästig werden kann. Wenn eine Beamtin ihre Arbeit unterbricht, rennen alle aus dieser Schlange nach links oder rechts und dann beginnt ein Drängeln, Streiten und manchmal, oder eher selten, auch ein Handgemenge. Und immer ist jemand da, der einen der Streitenden zu sich heran zieht, komm hierher, sagt der dann wohl, hält den Widerstrebenden fest oder nimmt ihn besänftigend in den Arm. Das habe ich einige Male gesehen und sehr bewundert. Man kann sich dem Stress, der den Durchreisenden hier über-kommt, kaum entziehen. Die Luft war schon nach der ersten Stunde schlecht, in der die Beamten der Grenzpolizei die weit über tausend Passanten zählende Schlange abgearbeitet hat (nachdem wir gekommen waren, war ja der Strom der neu eintref-fenden Grenzgänger weiter angewachsen). Manchmal hatte man das Bedürfnis, ein-fach irgendwie raus zu rennen, nur um an frische Luft zu kommen. Dann, nach dieser Stunde, öffnete einer der Soldaten, die zum Schutz der Abfertigungs-Beamten da sind, eine Seitentür, die für die Abgewiesenen da ist. Wir zählen auch die Leute, die pro Beamtin und pro Minute abgefertigt werden.

Einer der Männer hat mir dabei erzählt, dass nach seiner Erfahrung hier sehr unter-schiedlich gearbeitet wird: Zügig, wenn der Kommandant anwesend ist, und sehr nachlässig, mit manchmal nur zwei Durchlässen, wenn er nicht anwesend ist. Es ist gut, dass ihr da seid. Da geben sie sich mehr Mühe. Überhaupt hören wir oft, auch an diesem Morgen, so etwas wie Dank und die Einschätzung, dass unsere Anwe-senheit hier wichtig ist. Dazu muss ich auch sagen, dass es erstaunlich und gar nicht selbstverständlich ist, dass wir überhaupt hier mitten in der Anlage stehen, beobach-ten und Notizen machen, oder unsere Handys für Anrufe bei der Hotline benutzen dürfen. Das wäre doch z.B. in den DDR-Grenzkontrollstellen undenkbar gewesen.

Punkt 7 Uhr tauchen auf der Jerusalemer Seite, für uns hinter der letzten Barriere der Personenkontrolle, drei Frauen von Machsom Watch auf. Tatsächlich haben wir auch den ersten Fall einer Abweisung, Geschrei der jungen Beamtin, das Eingreifen eines Offiziers und der drei israelischen Frauen. Für einige Minuten können wir noch ver-folgen, was dort geschieht, dann sind alle verschwunden: Der junge Palästinenser, die schimpfende Beamtin, der ruhige Offizier und die israelischen Mütter, die hier jeden Morgen für eine Stunde diese Aufgabe auf sich nehmen, „ihre Söhne“, wie sie sagen, bei der Kontrolle der Palästinenser zu beobachten. Später erfahre ich durch einen Anruf bei einer der Frauen die Geschichte dazu. Es ging um einen Studenten, der in der Bethlehemer Zweigstelle der Al-Quds-Universität ein Examen schreiben wollte; der aber mit seinem Jerusalemer Ausweis nur nach Abu Dis, nicht nach Beth-lehem „ausreisen“ durfte. Die Frauen haben ihn an einer Straße abgesetzt, wo er ohne großes Risiko eine Lücke im System nutzen konnte. Ein Lob also für die israeli-schen Mütter, die sein Problem mit Rat für die grundsätzliche Lösung und mit Tat erstmal für diesen Tag gesorgt haben.

Eine Geschichte am Rand: Mit einem Mann habe ich mich unterhalten, weil er mich zweimal am Ärmel gezupft und angesprochen hat: Ich soll doch bitte die schnellere Abfertigung an diesem Fenster bewerkstelligen. Er hatte schon 20 Minuten dort in der Reihe gestanden. Dann kam er aufgeregt und wollte sich beschweren. Mann hat-te ihn nicht durch gelassen, sondern zurück geschickt. Die Umstehenden konnten ihn überzeugen, dass ich nicht der richtige Ansprechpartner für seinen Zorn sei. Abrupt wandte er sich ab. Er war groß und trug die Burka und die Keffiya mit schwarz-weiß gewürfeltem Muster. Das Tuch nahm er nun ab und verstaute es in seiner Burka. Dann ging er auf eine benachbarte Schlange Wartender zu und bat darum, vorgelas-sen zu werden. Viele der Wartenden, die seine zornigen Reden gehört hatten, ver-folgten aus dem Augenwinkel, ob er Erfolg haben würde und zwinkerten mir ohne eine Regung im Gesichtsausdruck zu. Schließlich verschwand er und ich konnte an-erkennendes Murmeln hören und vorsichtiges Lächeln in meine Richtung. Einer, der Englisch konnte, sagte leise: He has made it, er hat’s geschafft. Die Geschichte zeigt, dass die Kontrollen nicht neutral vorgenommen werden, sondern manchmal auch ein Moment der subjektiven Einschätzung oder Schikane enthalten.

Nach drei Stunden, als die Schlangen der Wartenden „abgearbeitet“ waren, sind wir gegangen. Draußen war gute Luft. Die Taxen auf der Bethlehemer Seite warteten auf die ersten Besucher. Der Teeladen war offen, die Männer an der Imbissbude mit Fa-laffeln und die Andenkenverkäufer hofften auf einen guten Tag, immerhin Sonntag, mit der Aussicht auf mehr Pilger, die die Heiligen Stätten und Kirchen der Stadt auch auf diesem Weg besuchen würden.

Für uns war Frühstück angesagt. Und dann der erste Kirchenbesuch.

Mit Carl, dem Schweden, war ich im Gottesdienst der lutherischen Gemeinde von Beit Jala. Am späten Nachmittag waren wir dann alle vier mit Asa, der baptistischen Kollegin aus Finnland, in der Baptistischen Kirche. Die Gottesdienste waren sehr un-terschiedlich. Beim ersten hatte ich das Vergnügen, dass ich, obwohl der Gottes-dienst ja in Arabisch gehalten wurde, immer wusste, wo wir im Ablauf waren; auch darum, weil der Pfarrer immer wieder ein Stück Liturgie auf Deutsch für die Gäste-gruppe sagte. Allerdings sind wir als Ökumenische Begleiter – immerhin auf Anfrage der hiesigen Kirchen hier – nicht begrüßt oder beachtet worden. Im zweiten Gottes-dienst konnten wir uns alle wohl fühlen, vor allem weil dort wunderschön gesungen wurde, eigene Gesänge, keine übersetzten deutschen Choräle. Und weil der Predi-ger uns ausführlich vorgestellt hat und seine sehr lange und lebhafte Predigt immer wieder für uns unterbrochen und mit drei Sätzen auf Englisch zusammengefasst hat.

Dabei hatte ich das ganz eigene Vergnügen, mit meinen Kollegen leise eine Wette darauf abzuschließen, über welchen Text der Prediger predigte. Er sagte zwar mehr-fach an, er predige über Lukas 15, die Verse 17 und 18. Aber seine Übersetzung war ganz klar kein biblisches Wort: „Der erste Schritt, um ein Problem zu lösen, ist der, zu erkennen und anzuerkennen, dass da ein Problem ist“. Diesen Satz hat er so oft ge-sagt, dass er wie ein neues Gebot klang. Aber Lukas 15? Meine Schätzung war, dass er die Verse vor sich hatte, in denen der Verlorene Sohn erkennt, dass er falsch gehandelt hat und bei seinem Vater zuhause besser aufgehoben wäre, als bei den Schweinen in der Ferne. Meine Schätzung hat sich hinterher, jeder kann das nun in der Bibel selber nachschlagen, als richtig erwiesen. Nach diesem Gottesdienst hat jeder von uns Gespräche mit den interessierten Gemeindegliedern geführt. Und das war’s doch, was wir wollten.

Das schönste Erlebnis dieses Tages war aber der Besuch im Kulturzentrum des Flüchtlingslagers von Ayda. Und das muss ich natürlich wiedergeben.

Bethlehem hat drei Flüchtlingslager. Man darf sich keine Zeltstädte vorstellen, son-dern mehrstöckige Häuser, die dicht gedrängt zwischen die älteren Wohngebiete ge-setzt sind. Darüber hängen die Gerüche der Armut. Das Kulturzentrum ist von Irland gespendet worden. Unsere Teamer treffen hier jeden Sonntag eine Gruppe von Ju-gendlichen, die als „Englisch-Klasse“ zusammen kommen. Heute singen sie nicht, weil Eirik, der Freiwillige aus Norwegen, mit der Gitarre nicht bei uns ist. Wir machen Spiele und die Jugendlichen spielen, wie bei uns, wenn sie zuerst so tun, als seien sie viel zu alte für so was und dann sind sie voll bei der Sache. Beim zweiten Spiel mussten sie zeichnen. Und das war das Stichwort.

Draußen, gegenüber der Eingangstür, war eine lange Gartenmauer mit einer ganzen Serie von Bildern aus der jüngeren Geschichte Palästinas bemalt, teilweise mit Mo-saiken gestaltet. Es war naive Malerei, offensichtliche von Laien gemalt. Bilder vom ländlichen Leben, wie es einmal war ; dann vom Eindringen der israelischen Panzer und Soldaten; ein Bild mit den Namen der zerstörten und mit jüdischen Siedlungen überbauten Dörfer, mit dem großen Schlüssel, Symbol der vernichteten Häuser, bzw. der alten Schlüssel, die in jeder Flüchtlingsfamilie neben der Tür hängen. Weiter zeigt die Gartenmauer Bilder von der Intifada; und vom täglichen Stress der Okkupa-tion. Jetzt begann Carl ein Gespräch über das Bemalen von Mauern mit den Jugend-lichen. Linda übernahm die Sprecherrolle: Ja, die Bilder haben wir mit den Künstlern zusammen gemalt. Wir haben darüber diskutiert, was sie malen sollen. Und in der Intifada-Szene haben wir uns hingestellt und Hände gehalten. Sie reden über die Bil-der und darüber, wie sie die Geschichte ihres Volkes sehen. Dann leitet Carl über: Was ist mit den Graffiti und Sprüchen an der Sperr-Mauer? Er zeigt rüber, wo wenige hundert Meter entfernt die hohe Trenn-Mauer zu sehen ist. Wir lesen dort die Slo-gans, wenn wir am Kontrollpunkt zu tun haben. Ja!, kommt wieder die Antwort, das waren wir. Und wieder erzählen sie, dass sie manchmal dorthin gehen und ihren Zorn dort in Sprüche umsetzen, wie „We don’t want the Wall!“ oder „Free Palestine“. Und die Graffiti in fremden Sprachen?, fragen wir. Ja, das waren wir mit unseren Freunden und sie erzählen vom Jugendlager im Sommer, wo Jugendliche aus Euro-pa da waren und in ihren Sprachen, portugiesisch, griechisch, polnisch usw., ihren Protest an die Mauer geschrieben haben. Ich erinnere mich and die folgenden: „War-saw Ghetto1943 – Bethlehem Wall 2006“ und „Gott ist zu groß für nur eine Religion“ und „Jesus hat über Jerusalem geweint – wir weinen über Palästina“, steht da z.B. auf Englisch. (Und der das geschrieben hat, war kein guter Bibelkenner, denn in den Evangelien wird erzählt, wie Jesus über das Unrecht weint, das die Jerusalemer tun und dulden; nicht darüber, was sie erleiden.) Die Jugendlichen lachen, jetzt sind es vor allem die Jungs, die von ihren Ausflügen an die Mauer reden.

Carl nimmt eine letzte Wendung. Er zeigt auf mich und sagt, Gottfried kommt aus Berlin und kennt auch eine Mauer. Sofort gehen die Jugendlichen darauf ein. Ja, von der Berliner Mauer wissen sie. Und ich muss von der Nacht erzählen, in der die Mauer geöffnet und nie wieder geschlossen wurde. Wie die Menschen oben auf die Mauer geklettert waren und zu tanzen angefangen hatten. Wie die Soldaten, das Gewehr umgehängt, hilflos und ohne brauchbare Befehle, wie zu reagieren sei, daneben standen. Wie der Offizier, fassungslos vor diesem Chaos in seinem Ver-antwortungsbereich, den singenden und tanzenden Menschen auf der Mauer zurief: Vorsichtig, fallt nicht runter! Wie die ersten Menschen Werkzeug zur Hand hatten, mit dem sie die Mauer bearbeiteten. Und wie später die Menschen Bruchstücke der Mauer als Erinnerung in ihre Regale legten oder verschenkten. – Die Jugendlichen im Flüchtlingslager Ayda hören zu, sie lachen aber nicht. Ob sie glauben, dass sie so eine Nacht oder so einen Tag erleben werden? Nein, das können sie nicht. Ich er-zähle von Berlin und dass damals niemand im Ernst daran gedacht hat, was sich dann so überraschend und folgenreich abspielen würde. Ob ich glaube, dass ihre Mauer fallen werde. Ja!, sage ich ohne Zögern und hoffe, dass ich überzeugend klin-ge. Ich kann an ihren Augen sehen, dass sie den Gedanken aufnehmen, aber nicht richtig unterbringen können. Eines wissen sie aber genau: Nein, Bruchstücke der Mauer würden sie nicht sammeln und nicht verschenken. Die Mauer ist schrecklich, sagen sie, wir wollen sie weg haben und nichts mehr davon sehen…

Nächste Woche wollen die Jugendlichen wieder kommen und singen und reden.

Unser Sonntag war lang. Er war ja der erste Arbeitstag für die Palästinenser und hat uns ein Stück ihres Alltags morgens, auf dem Weg zur Arbeit gezeigt. Er hatte uns mit Christen zusammengebracht und an ihrem Feiertag teilnehmen lassen. Er hatte uns mit den Jugendlichen im Flüchtlingslager zusammen geführt und mit ihrer Suche nach Hoffnung. Und vielleicht waren wir einigen Menschen aus Bethlehem dabei sel-ber als Zeugen aus einer Welt erschienen, in der es doch Zukunft und Hoffnung gibt.

Saturday, November 18, 2006

Ausflüge in die Vergangenheit

Berichte aus Jerusalem

Ausflüge in die Vergangenheit
12. November 2006

Nini war zu Besuch. Tobias und Yaara haben mit uns Ausflüge gemacht: In die Vergangenheit Israels.

Zuerst waren wir in Cäsarea, der Stadt, die Herodes zu Ehren von Kaiser Octavian Augustus gebaut hat, eine planvoll angelegte, moderne Stadt. Das war um die Zeitenwende. Die Ruinen legen noch heute Zeugnis ab von der Pracht und Lebensart in dieser Stadt. Herodes hat hier Hof gehalten. Alle vier Jahre hat er große Spiele mit Pferderennen und Tierkämpfen veranstaltet und große Lebensart gezeigt. Später war die Stadt Teil des Byzantinischen Reiches und verlor an Glanz. Einige Jahrhunderte haben Menschen in dieser Stadt gelebt, es wurde aramäisch, lateinisch und griechisch gesprochen. Heiden, Samariter, Juden und Christen haben hier gelebt. Griechische Mosaik-Inschriften im Pflaster einiger Innenhöfe lassen ahnen, wie das Leben in dieser Stadt am Mittelmeer verlaufen ist. Und aus sehr später Zeit ist ein Minarett übrig geblieben. Übrigens: Paulus ist hier dem römischen Statthalter vorgeführt worden, hat auf einem fairen Prozess in Rom bestanden und ist dorthin überführt worden. Das alles ist genug, um die Ruinen und Ausgrabungen unter die bedeutenden historischen Stätten dieser Region einzuordnen.

Aber es geht um mehr. Die Stadt Cäsarea spricht aus der Zeit, in der das Land jüdisch war, wenn auch von Römern beherrscht und von einem Nicht-Juden, Herodes, verwaltet. Es spricht aus der Zeit, in der die Einwohner dieses Landes zur Minderheit wurden und aus der abgelegenen Provinz, die keine eigene, keine jüdische Identität mehr hatte, in alle Himmelsrichtungen wegzogen. Es spricht vom Ende des Alten Israel.

Am nächsten Tag sind wir nach Zikhrov Ya’kov gefahren, das auf einem Hügel über dem Meer liegt. Hier haben Siedler der ersten Alija ein Moschaf gegründet. Sie haben hier getan, was sie in Europa nicht durften: Land gekauft und als Ackerbauern gelebt. Und sie haben eine erfolgreiche Landwirtschaft aufgebaut, die in dieser Region neu war. Das Dorf ist stolz auf eine für das Neue Israel entscheidende Geschichte: Leute haben hier Widerstand gegen die Türken geleistet, junge Frauen haben als Spione gegen das Osmanische Reich gekämpft und sind hingerichtet worden. Jetzt ist das Dorf eine touristische Attraktion, weil hier der Beginn des Neuen Israel dargestellt ist. Die Häuser und Höfe dieser ersten Alija sind noch erhalten, die Synagoge aus der Zeit, als das Dorf ein ansehnlicher Marktflecken wurde. Die Strassen tragen die Namen der Gründer. Sie sind voller Boutiquen und Kaffees. Und der Blick auf die Ebene nach Süden, auf das Hügelland unter dem Karmel und auf das Mittelmeer macht was her. Das Städtchen war voll von Menschen, die wie wir das schöne Wetter und diesen Ausflug in die Geschichte des Neuen Israels genießen wollten.

Zurück in Jerusalem habe ich, zusammen mit allen Freiwilligen vom Ökumenischen Friedensprogramm die Israel-Woche angefangen. Wir waren im Holocaust-Museum. Darüber kann ich nicht berichten, das geht mir zu nahe. Die Gruppe hat sich nach dem Besuch zusammengesetzt und über die Gefühle, die jeder hatte, ausgetauscht. Solange habe ich mich abseits in den Schatten eines Baumes gesetzt. Dieses Stück Geschichte, obwohl ein halbes Jahrhundert alt, ist mir so nahe und so schwer auf der Seele, dass jedes Wort darüber schmerzt.

Danach waren wir in einem kleinen Dorf, nicht weit von der Gedenkstätte. Das Dorf heißt Lifta. Es liegt zwischen den Hügeln, auf denen der Westen Jerusalems ausläuft und die Berge nach hinunter ins flache Land am Meer abfallen. Das Dorf Lifta ist nicht mehr bewohnt. Die Häuser haben keine Fenster und Türen mehr, Bäume wachsen aus Treppen und Terrassen. Die Natur erobert sich diese einstige Ansiedlung zurück. Die Moschee ist von außen nicht mehr zu erkennen. Die Ölmühle, die vor einem Jahr noch zu sehen war, ist vom herab gestürzten Dach begraben. Kein Schild zeigt den Namen des Ortes. Kein Zeichen würdigt diesen Ort der jungen Geschichte des Neuen Israel eines Gedenkens. Eine Schnellstraße führt darüber und der Bus, der uns bringt und abholt, muss einen großen Umweg fahren, um in dieses abgelegene Tal zu finden. Lifta ist ein Dorf, das im Krieg von 1948, den die Palästinenser Al Naqba, das Verhängnis, nennen, von israelischen Truppen erobert worden. Seine Einwohner sind vertrieben worden. Das Land gehört zu Israel. Aber der Besitz an Boden und Gebäuden liegt bei den Bewohnern, die zum Teil noch am Leben sind. Sie wohnen jetzt in Flüchtlingslagern in Israel oder in Jordanien und versuchen, ihre Rechtstitel durchzusetzen. Die Stadt hat Pläne für eine neue Bebauung des Berghanges, auf dem das Dorf und seine Oliventerrassen liegen, immer wieder in die Schublade gelegt. Hat das Dorf Lifta, gegen den Trend, dem alle anderen Dörfer verschwunden sind, noch eine Chance? Kann es wieder zum Leben erwachen? Oder kann es eine Gedenkstätte für das Schicksal vieler Dörfer in Israel werden, wo der Flüchtlinge und Vertriebenen und ihrer Kultur, die sie hier Jahrhunderte lang gelebt haben, gedacht wird? Es gibt Israelis, die genau das wollen, unsere Führerin gehört zu ihnen.

Auf dem Rückweg aus dem Dorf zu der Straße, auf der der Bus wartet, treffen wir am eingefassten Dorfbrunnen einige junge Männer. Sie tragen die Tracht der Orthodoxen Juden und vollziehen ein Reinigungsbad im alten Brunnen von Lifta. Dann laufen sie davon, es sind Hippies, erklärt uns die Führerin, sie wollen nicht, dass wir sehen, in welchem Haus sie wohnen. Es ist eine wunderliche Szene: Die Jungs im schwarzen Habit mit den wehenden weißen Hemdschößen und die hellen Ruinen der Häuser, deren Bewohner hier nicht wohnen dürfen oder die Bäume und Sträucher, die vom Regen ermutigt, grün und stark über Straßen und Balkone wachsen.

Ausflüge in die Vergangenheit sind in diesem Land immer politisch. Sie sollen etwas beweisen oder sie dürfen es nicht.

Friday, November 17, 2006

Frauen in Schwarz

Berichte aus Jerusalem: Berichte aus Jerusalem

Frauen in Schwarz
Es ist Freitag, mittags ein Uhr. Wir sind in West-Jerusalem. Wir sind drei Ökumenische Freiwillige, wir stehen mit den Frauen in Schwarz an dem kleinen Platz zwischen King-George-Straße und den Ramban und Ben-Maimon Boulevards. Hier stehen die Frauen an jedem Freitag, sie stehen hier für eine Stunde, schwarz gekleidet. Sie halten schwarze Schilder hoch, auf denen in drei Sprachen steht: Beendet die Besetzung. Manchmal stehen auch Männer bei ihnen. Heute stehe ich neben einem von ihnen. Er hilft mir, zu verstehen, was die Autofahrer, die an der Ampel stehen bleiben müssen, herüber rufen.

Ein Motorradfahrer spricht mit meinem Nachbarn, ich kann nicht herausfinden, ob er unfreundlich ist; die beiden scheinen sich zu kennen. David, mein Nachbar, erklärt: Mit diesem Mann hat er öfter zu tun gehabt, er pflegte die Demonstranten heftig zu beschimpfen. Einmal hat er ihn aber zufällig bei einer mehr privaten Gelegenheit getroffen. Zunächst hatte der Mann ihn wieder Vaterlandsverräter als beschimpft, hat sich aber dann auf eine Diskussion eingelassen. Jetzt kommt er auch regelmäßig vorbei, es ist genau die Zeit, wo er hier auf Weg nach Hause ist, und fühlt sich verpflichtet, gesittet zu reden. Steht ihr immer noch hier, fragt er. Und: Wie viel Land wollt ihr ihnen (den Palästinensern) denn geben? Wenn ihr ihnen ein bisschen zugesteht, wollen sie das ganze…

Ein Taxifahrer fährt vor, die Ampel wird aber grün, er ruft etwas, fährt aber weiter. Es hat sich freundlich angehört. Ja, sagt David und lacht. Er ist ein Araber, jeder arabische Taxifahrer, der vorbei kommt, grüßt freundlich oder winkt uns zumindest zu.

Ein Autofahrer lässt sein Fenster runter und beginnt eine unfreundliche Unterhaltung. Es geht um die Grenzen. Welche Grenzen wollt ihr ihnen (den Palästinensern) geben? Die Grenzen von 48, antwortet ihm David. Warum nicht die von 67, ruft der Taxifahrer, was macht das für einen Unterschied, 19 Jahre? Die Ampel wird grün, kopfschüttelnd fährt er los.

Ein Polizeibeamter kommt dicht heran, macht einige Notizen und geht weiter. Keiner beachtet ihn.

David sieht meinen Notizblock mit dem südafrikanischen Aufkleber. Er will wissen, was ich mit Südafrika zu tun habe. Dann erzählt er mir. David ist im Alter von 15 Jahren nach Israel gekommen. Das war 1977, einige Wochen, nachdem Steve Biko umgebracht worden ist. Seine Eltern haben ihn hierher geschickt, damit er in Südafrika nicht zum Militärdienst eingezogen wird. Seine Eltern ihrerseits waren 1936 aus Deutschland ausgewandert. Dort waren sie als Juden bedroht. Irgendwann ist ihnen klar geworden, dass sie in Südafrika Nutznießer eines rassistischen Systems waren. Sie wollten nicht, dass der Sohn als Weißer gegen die Schwarzen kämpfen muss. David hat seine Jugend weit weg von seinen Eltern, in Israel verbracht, ist zur Schule gegangen, hat studiert – und sollte zum Militärdienst eingezogen werden. Er hat den Dienst verweigert und ist dafür ins Gefängnis gegangen. Jetzt stellt er sich manchmal zu den Frauen in Schwarz und unterstützt ihre Forderung nach einem Ende der israelischen Besatzung der Palästinenser-Gebiete.

Ava, zu meiner Rechten, spricht zu mir über Freundinnen in Deutschland. Sie hat sie erst vergangenes Jahr wieder besucht. Ihre Eltern sind, ebenfalls in den dreißiger Jahren, aus Deutschland hierher gekommen. Sie haben sich nicht vorstellen können, dass ihre Tochter hier eines Tages im Protest gegen die Gewaltanwendung gegen Palästinenser stehen und den Unwillen der vorbeifahrenden Israelis erregen würde, sagt Ava lachend. Ava ist älter, als ihre Eltern damals waren, als sie nach Israel gekommen sind. Ich frage sie nach ihren Gefühlen gegenüber Deutschen und in Deutschland, mit all den Erinnerungen an die Familienmitglieder, die den Holocaust nicht überlebt haben. Sie erzählt mir, dass schon ihr Vater seinen Frieden mit den Deutschen gefunden und mit einigen Deutschen Freundschaft geschlossen habe.

Uri, ein junger Mann, steht unterhalb der Mauer, auf der wir stehen und die schwarzen Schilder zeigen. Er ist hier, um seine Mutter zu unterstützen. Er war als Militärdienstverweigerer zwei Jahre lang im Militärgefängnis. Ich spreche ihn auf die Demonstration von Kriegsdienstverweigerern vor einigen Tagen an, bei der ich gewesen war und unter roten Fahnen gestanden hatte. Die Kommunistische Partei, erklärt er mir, sei die einzige, die von jeher gegen die Besetzung der palästinensischen Gebiete gewesen sei. Es sei eine kleine Partei, die dem anti-zionistischen Block angehöre. Uri gehört dieser Partei nicht an, aber er findet, ich sollte eine gute Meinung von ihr haben.

Die eine Stunde der Demonstration ist um. Die Frauen verabschieden sich voneinander und von uns. Sie sagen: Also dann, bis nächste Woche!

Routine am Checkpoint

Berichte aus Jerusalem
Routine am Kontrollpunkt
Dienstag, 7. November, 6 Uhr. Es ist ein Routinebesuch. Aber einige Details nehme ich in den Wochenbericht auf.

Irgendwann scheint der Polizist, der die Drehtüren bedient, eingeschlafen zu sein. Die Leute, die aus Jerusalem kommen und nach Ramallah wollen, stehen ratlos vor der Drehtür, die normalerweise offen ist. Sie befinden sich jetzt im Käfig zwischen Eingangs- und Ausgangs-Drehtür. In ihrer Richtung, wenn sie Jerusalem verlassen, findet keine Kontrolle statt, sie schieben sich zweimal durch dieses kleine Karussell. Es werden immer mehr. Der Wachmann reagiert auf kein Winken mit den Armen. Kristina drückt auf den Klingelknopf. Der Polizist schreckt auf und drückt seinerseits auf einen Knopf. Wir stehen auf der Ramallah-Seite und glauben an einen Scherz: Die Drehtür zeigt auf unserer Seite grün. Auf der anderen Seite zeigt sie rot und ist geschlossen. Die Leute, die aus dem Terminal raus wollen, können immer noch nicht raus. Die Palästinenser auf unserer Seite erkennen die Situation. Sie gehen ruhig auf die Drehtür zu und gehen, einer nach dem anderen, durch. Sie gehen an den Kopf schüttelnden Gegen-Passanten vorbei und auf die andere Drehtür zu, die sie endgültig und ohne Kontrolle auf die Jerusalemer Seite entlassen würde. Diese Drehtür ist natürlich nicht zu, sie funktioniert, wie sie soll, ausschließlich in unsere Richtung. Da stehen sie nun alle, ein Haufen Frühaufsteher vor der Tür, die ihnen Jerusalem verschließt und ein Haufen Nachtarbeiter vor der Tür, die ihnen ihr Zuhause in Ramallah verschließt. Irgendeiner bemerkt den Fehler, und die Drehtür wird geschlossen. Jetzt geht auf diesem Abschnitt gar nichts mehr. Die Leute, die nach Hause, nach Ramallah wollen, wahrscheinlich von der Nachtschicht kommend, werden laut und fordern ihren Durchgang. Die anderen drücken sich still möglichst eng an die Wand, aber das hilft nichts. Hier sind so viele Kameras, ein Offizier bemerkt die Situation und brüllt in den Lautsprecher. Zögerlich und mit schlechtem Gewissen kommen sie zurück. Immer noch sind auch die Drehtüren, die die nach Jerusalem Einreisenden schleusen sollen, zu. Die Stimmung wird aggressiv. Neues Brüllen durch den Lautsprecher. Die Drehtüren, die die Leute aus dem Terminal entlassen, zeigen Grün und die Leute kämpfen sich durch. Nach drei Minuten ist der Durchgangsbereich für die aus Jerusalem Ausreisenden leer und die Mogler, die ihre Chance gesucht hatten, müssen sich wieder hinten in die Schlangen einreihen. Die von der Nachtschicht kommenden, die hier ohne Sicherheitskontrolle durch die Türen geschleust werden, sind in Richtung Ramallah aus dem Terminal gegangen. Aber vorn, neben der Drehtür, haben einige Schüler, fünf oder sechs, ihre Chance erkannt. Blitzschnell haben sie, die Aufregung nutzend, ihre Ranzen über das hohe Gitter geworfen und sind mit wenigen schnellen Kletterbewegungen hinüber gesprungen und raus gerannt. Eine Polizistin hat sie gesehen, sie musste aber auch erst durch die Sperre gelassen werden, ist ihrerseits losgerannt, das Gewehr fest an die Schulter gedrückt. Ihr Pferdeschwanz wippt mit den Laufschritten. Ich bin ebenfalls gerannt, nach hinten, wo der Parkplatz auf der Ramallah-Seite Einblick auf die andere, die Jerusalemer Seite, wo die Busse stehen, gewährt. Die Schüler sind nicht sichtbar, die Polizistin steht ratlos und gibt auf. Ich gehe zurück in den Terminal und berichte meinen Mit-Beobachtern vom Erfolg der Schüler. Es hätte ja eine sportliche Angelegenheit sein können und wir hätten gelacht. Aber hier ist alles Ernst und das Ding hätte böse enden können.

Unter denen, die ihre Chance in der verkehrten Drehtür gesucht hatten, war auch ein alter Mann. Er wurde begleitet von seinem Sohn, der ihn Schritt um Schritt führt. Der Mann ist offensichtlich krank und zeigt, als er schließlich am eigentlichen Schalter steht, außer dem Ausweis seinen Überweisungsschein vor. Aber der gilt nichts in Jerusalem. Er muss entweder dort einen Arzt finden, oder, wenn das erforderlich ist, eine Sondergenehmigung für eines der Ost-Jerusalemer Krankenhäuser. Er wird abgewiesen. Ich gucke auf die Uhr: Vor einer Stunde habe ich ihn kommen sehen. Er geht in einer anderen Warteschlange zum nächsten Schalter, wird abgewiesen. Ich verliere ihn aus den Augen. Zwei Stunden später, auf der Jerusalemer Seite, sehe ich ihn, von seinem Sohn geleitet, in einen Bus steigen. Er hat es offensichtlich mehrfach versucht – und Glück gehabt.

Die Warteschlange ist lang. Ich bemerke, dass einige Studenten sich zunächst einreihen, dann aber aufgeben und das Terminal verlassen. Ich gehe ihnen nach und finde heraus, dass sie in ein Taxi steigen. Sie versuchen es im nächsten Kontrollpunkt, in Ar Ram, sagen sie. Aber dort lässt die Grenzpolizei nur Leute durch, die auf einer Liste stehen, wende ich ein. Wir stehen drauf, sagen sie, wir sind Studenten. Wir müssen es probieren, hier dauert es zu lang. Ich überlege mir, wie viel Unkosten die Leute haben, wie viel Zeit sie verlieren, die hier jeden Tag diese Prozedur durchlaufen und dann evt. andere Kontrollpunkte anfahren, um Zeit zu sparen.

Ein Mann spricht uns an. Er ist Lehrer in Bethlehem. Er nimmt jeden Tag zuerst einen Bus von Ramallah bis zu diesem Kontrollpunkt. Auf der anderen Seite steigt er in einen Bus, der ihn zur Zentralen Busstation in Ost-Jerusalem bringt. Dort nimmt er einen Bus nach Bethlehem, zum Gilo-Kontrollpunkt, berichtige ich. Richtig, nur bis zum nächsten Kontrollpunkt. Auf der anderen Seite fahren keine Busse. Dort steigt er in ein Taxi, das teilt er sich mit Anderen, und fährt zu seiner Schule in Bethlehem. Ich rechne nach: Er zahlt hin und zurück zusammen jeden Tag über 30 Schekel, fast 6 Euro Fahrgeld. Nach der Zeit habe ich ihn gefragt: Wenn’s gut geht, zwei Stunden. Und wenn es schlecht läuft? Ich bin auch schon mal wieder nach Hause gegangen, weil es sich nicht mehr gelohnt hat, sagt er.

Noch auf der Ramallah-Seite bin ich ein Stück an der Mauer, die hier 12 Meter hoch ist, entlang gegangen. Hier stehen seit einer Woche eine Doppelreihe von 12 Fertig-Häuschen, sie bieten knapp 5.000 Briefkästen. Der verantwortliche Bauingenieur, den ich vor einer Woche gefragt hatte, wusste nur, dass hier ein Post-Dienst eingerichtet würde, für die Bewohner „auf dieser Seite“. Offensichtlich gibt es bisher keinen Postdienst in diesem Teil Ramallahs; künftig können die Bewohner hierher kommen und sich ihre Briefe abholen. Wird der Kontrollpunkt irgendwann zum Dienstleistungszentrum?

Auf der Jerusalem-Seite stehen wir noch eine Weile auf dem Straßenabschnitt und beobachten die Kontrolle, die dort vorgenommen wird. Auch hier werden die Autos, die Jerusalem verlassen, nicht, bzw. nur stichprobenweise kontrolliert. Mir fällt auf, dass ein kleines Team von zwei Soldaten damit befasst ist. Einer von ihnen führt einen Fotoapparat mit sich. Er nimmt Fotos von den Fahrern und ihren Papieren, sowie von den Nummernschildern der Autos, während sein Partner Sitze und Kofferraum untersucht. Was soll das, denke ich. Brian, mein Mit-Beobachter, holt seinen Fotoapparat mit der großen Vorsatzlinse heraus und nimmt die beiden Kontrolleure ins Visier. Die lachen zuerst und stellen sich in Pose, dann bedeuten sie uns, dass wir sie nicht fotografieren dürfen. Kristina geht prompt auf sie zu und beginnt ein Gespräch. Die beiden waren gut aufgelegt, aber die einzige brauchbare Antwort, die Kristina mitbringen konnte, war: Sie seinen so eine Art Militär-Journalisten.

Es ist ein warmer Tag. Es ist fast 8 Uhr. Wir fahren nachhause, in unser Quartier, wo wir frühstücken. Wir denken an die Arbeiter, die durch den Kontrollpunkt müssen, oder durch zwei davon. Sie kommen müde bei ihrer Arbeit an. Und dort sollen sie ihren Arbeitstag beginnen. Wenn der beendet ist, beginnt für sie der Heimweg – durch den Kontrollpunkt.

Wednesday, November 08, 2006

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem

Das Kamel

Manchmal sieht man in Jerusalem ein Kamel, das den Touristen als Hintergrund für Fotografien dient, aber natürlich auch für einen Ritt durch die Straßen Jerusalems oder außerhalb der Mauern der Altstadt oder was weiß ich. Eigentlich habe ich das Kamel nur ein einziges Mal gesehen, aber es lebt hier irgendwo. Und Nini hat sofort, als ich von dem Kamel auf der Kreuzung erzählt habe, an das gleiche Kamel gedacht.

Es war am Abend des ersten Feiertages, mit dem der heilige Monat Ramadan endet. Tagsüber hatten wir junge Männer auf Pferden überall in der Stadt gesehen. Und am nächsten Tag war der Sportplatz hier oben auf dem Ölberg voll von Jugendlichen und etwa einem Dutzend verschieden alter Pferde, die offensichtlich für einige Runden auf dem Platz vermietet wurden. Wo sind die Pferde an all den anderen Tagen des Jahres? So haben wir uns gefragt und bis heute keine Antwort erhalten. Sie sind nach den Festtagen des Eid al Fittr in den Straßen aufgetaucht und danach wieder verschwunden. Auch das Kamel.

An dem Abend, von dem ich also kurz berichte, kam ich abends vor Sonnenuntergang oben an der Kreuzung an, an der wir immer aus dem Bus Nummer 75 aussteigen und die letzten hundert Meter zu Fuß gehen. Vor mir sah ich das Kamel. Ein Junge mit auffällig kurz geschnittenem schwarzem Haar saß zwischen den Höckern, das Kamel hatte seinen schönen Sattel und Kopfschmuck und lief mit diesem unverkennbaren Gesichtsausdruck der Überlegenheit auf der rechten Straßenseite, zu weit weg für ein Foto. Es dauerte keine 30 Sekunden, bis die Kreuzung voll war. Zwei Taxen, zwei Esel, ein PKW, ein Rappen, ein Schimmel und ein Bus näherten sich von vier Seiten der Kreuzung oder waren schon auf ihr. Die Szene war wie eine Fata Morgana, tauchte aus dem Nichts auf und verschwand wieder. Der Reiter auf dem Esel ritt über einen Zebrastreifen, das Kamel bog nach rechts ab, der Bus öffnete seine Tür mitten in seiner Linkskurve und entließ die müden Fahrgäste, die für weiteres Chaos auf der Kreuzung sorgten, weil sie sich zwischen den ungleichen Verkehrsteilnehmern durch schlängelten. Kein Hupen, kein Wiehern, kein Fluch oder lauter Ruf. Mit den normalen Geräuschen unserer kleinen dörflichen Einkaufsstraße löste sich der Spuk aus Tausendundeiner Nacht auf. Die Kreuzung war leer, drei, vier Leute standen an der Bushaltestelle, der Gemüsehändler brachte eine Kiste mit frischen Orangen auf die Straße und der Geruch von Diesel und Pferd war mehr Erinnerung als Wirklichkeit. Die Auflösung des kleinen Verkehrsstaus hatte wieder keine 30 Sekunden gedauert.

Am nächsten Tag hatte ich unten in dem Markt gegenüber vom Damaskustor zu tun. Ich war in dem kleinen Minimarkt, in dem wir manchmal einkaufen. Ich hatte beide Hände voll mit meinen kleinen Einkäufen von Buttermilch, Oliven und Brot. Ich stand an der Kasse, als ein Pferd in den Laden kam, also es muss ja sicherlich heißen: Als ein Reiter mit seinem Schimmel in den Laden kam. Es gab eine heftige Bewegung von der Kasse bis in den hintersten Winkel des Minimarktes. Aber niemand fiel um, niemand fluchte oder schrie auf. Der Reiter nahm eine Schachtel Zigaretten entgegen, das Pferd stieß bei seiner Rückwärtsbewegung an ein Regal, aber einige flinke Hände legten die herunter gefallenen Waren zurück in die Regale. Keine Aufregung. Das alles ging viel zu schnell für meine Kamera, die immerhin aus der Jackentasche geholt, in Betrieb gesetzt und in Position hätte gebracht werden müssen, dabei hatte ich gerade mal meine drei Einkäufe so verlegt, dass ich die Kamera greifen und herausholen konnte. Auch blieb diesmal ein starker Geruch nach Tier und Natur im Laden zurück. Und ich glaube, das Pferd hat über meinen Versuch, die Begegnung mit einem Foto festzuhalten, gelächelt.

Bevor ich das vergesse, das könnte ja wichtig sein für den fragenden Leser: Das Kamel war, wie Ibrahim mir Tage später erklärte, auf dem Nachhauseweg von seinem anstrengenden Tag mit Touristen. Es wohnt hier oben auf dem Ölberg.

Jerusalem kommt mir manchmal wie eine Theaterbühne vor, auf der alle, Schauspieler und Statisten ihr Spiel kennen und professionell spielen. Wie sonst passen die Anhänger der drei Religionen und die Geistlichen, Mönche, Pilger und von all der Heiligkeit Ergriffenen mit ihren mittelalterlichen Verkleidungen und dem schönen Kopfschmuck und diesem Gesichtsausdruck in die engen Straßen dieser Stadt?

Lach nur, lieber Leser!

07.11.2006
Gottfried Kraatz

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem

Wünschet Jerusalem Glück!

Die Erlöserkirche in Jerusalem liegt mitten in der Altstadt, gerade noch im Christlichen, aber dicht an der Grenze zum muslimischen Viertel und man kann, wenn man über die anliegenden Gebäude schaut, die Flaggen mit Davidsstern sehen, die die jüdischen Wohnungen über den arabischen Läden kennzeichnen. Die Völker leben hier zusammen. Aber glücklich?

Schon auf dem Weg zur Kirche fällt mir eine Gruppe auf, Männer in dunklen Anzügen und mit Kollar, und Frauen in europäischer Sonntagskleidung. Meine Vermutung, dass sie zur Erlöserkirche zielen, war richtig. In der Kirche sind bestimmt achtzig bis hundert Besucher. Vier Pfarrer und eine Pfarrerin im Talar sowie zwei Älteste ziehen ein und nehmen in der ersten Reihe Platz. Heute wird der Vikar in die Gemeinde eingeführt. Es wird ein festlicher Gottesdienst.

Der Propst begrüßt die Gemeinde mit dem Motto für diesen Gottesdienst, er bezieht sich auf den Psalm 122: Die Völker ziehen hinauf nach Jerusalem, die Stadt, in der man zusammen kommen soll, um in ihren Mauern zu preisen den Namen des Herrn. Später wird der Psalm im Wechsel gelesen: „Nun stehen unsere Füße in deinen Toren, Jerusalem. Jerusalem ist gebaut als eine Stadt, in der man zusammenkommen soll… Wünschet Jerusalem Glück! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben! Es möge Friede sein in deinen Mauern und glück in deinen Palästen!“

Der Propst sieht Gemeindeglieder, die in Jerusalem wohnen vor sich; Gäste aus Deutschland, die zu diesem Anlass in die Stadt auf dem Berge gekommen sind, auch andere Pilger, die die heiligen Stätten sehen und den Atem der Geschichte des Christentums hier atmen wollen. Menschen eben, für die diese Stadt viel bedeutet. Die Völker strömen in diese Stadt. Schön, wenn die alte Psalmdichtung so anschaulich dargestellt und gefeiert werden kann.

Für mich liegt die erste Woche meines ökumenischen Friedensprogramms hinter mir. Vor zwei Tagen, am Freitag, hatte ich erlebt, wie landesweit Maßnahmen getroffen worden waren, um nur ältere Palästinenser durch die Tore der Stadt zu lassen, die auf dem Tempelberg beten und ihrem Glauben gemäß feiern wollten: Am Freitag im Fastenmonat Ramadan. Die Kontrollpunkte an Ostjerusalems Grenzen waren zu Festungen ausgebaut und die Pilgerströme der palästinensischen Muslime waren gefiltert und zum Teil mit Gewalt aufgehalten worden. Ich hatte die Polizei- und Armeekräfte vor den alten ehrwürdigen Stadttoren gesehen, die ihre Arbeit ernst und effektiv gemacht, die die gottesdienstliche Stimmung der frommen Pilger nachhaltig gestört hatten, die zu ihren Pausen den Helm abgenommen und darunter ihre jüdische Kippa, Zeichen ihrer Zugehörigkeit zum Volk Gottes, gezeigt hatten. Ich hatte gesehen, wie viel Gewalt nötig war, um Sicherheit in den Mauern dieser Stadt zu gewährleisten und wie diese Gewalt nur weitere Gewalt erzeugen wird; denn was werden die muslimischen Jugendlichen, die jungen Ehemänner und die Väter mit ihren weißen Kappen, die, wenn sie von außerhalb der Stadtgrenzen in die Stadt kommen wollten, abgewiesen und zum Teil verächtlich oder beleidigend behandelt worden waren – was werden sie aus ihrer Liebe zu dieser Stadt machen?

Jerusalem ist eine Stadt mit zwei Namen. Den einen kennen wir: „Jerusalem“, die Stadt der Könige Israels und Judas. Und den anderen nehmen wir manchmal mit Erstaunen zur Kenntnis und vergessen ihn wieder: „Al Quds“, die Heilige, die Stadt der Muslime, die dritte Stadt nach Mekka und Medina, die mit dem Leben und mit den Visionen Mohameds verbunden ist. Die Stadt ist seit einigen Jahrzehnten getrennt: in das jüdische West- und das muslimische Ost-Jerusalem. Die Christen leben als Minderheit vor allem in Ost-Jerusalem. Aber das Problem ist, dass der Ostteil der Stadt, mit dem Tempelberg und dem Felsendom und der Al-Aqsa Moschee vom palästinensischen Hinterland abgetrennt und von israelischer Polizei und Armee kontrolliert wird. Und dass im Konfliktfall Juden mit schwarzer Kippa die Muslime mit weißer Kappe daran hindern, in die Stadt zu ihren Heiligen Stätten zu kommen.

Da stand der Muslim, der 51 Jahre alt und darum am Kontrollpunkt abgewiesen worden war. Von Tulkarem, im Nordosten der Besetzten Gebiete war er gekommen. Fünf Stunden hatte er gebraucht, um bis hierher zu kommen. Zwanzig Minuten Busfahrt trennten ihn nun von der Moschee, in der er das Mittagsgebet dieses Freitags im Ramadan feiern wollte. Aber er durfte nicht weiter. Seine Familie, Frau und drei kleine Kinder waren auf der anderen Seite, ohne Geld, wie er mir beteuerte. Er glaubte, ich könne bewirken, dass er durch die Kontrolle gelassen würde. Wo kommst du her? Aus Deutschland. Was bist du? Christ. Christen und Muslime sind nahe beieinander, sagt er. Und ich schäme mich, weil ich es aus Deutschland anders kenne. Juden sind weit von uns weg, sagt er. Die Juden lassen uns nicht zum Gebet nach Jerusalem. Das sagt der Muslim, der von den Grenzpolizisten, die hier keine Grenze, sondern eine Annexionslinie bewachen, zurück geschickt worden ist. Er zeigt auf die Uniformierten, auf die schwer Bewaffneten, aber er nennt sie Juden. Und er sagt, die Juden wollen uns den Tempelberg wegnehmen, sie wollen uns aus Jerusalem vertreiben.

Was der Mann an dem Kontrollpunkt sagt, habe ich, seit ich hier in Jerusalem bin, oft gehört. Die Juden wollen uns vertreiben. Israel will Fakten schaffen und Jerusalem für sich in Besitz nehmen. Einmal, an einem anderen Kontrollpunkt, habe ich das mit großer Verbitterung gehört. Der Mann, der es äußerte, war sehr ungehalten darüber, dass wir Europäer hier so ein Programm aufziehen und gleichzeitig blind sind und überhaupt kein Verständnis für die Situation der Palästinenser haben. Wir leben hier seit Jahrtausenden, hat er gesagt: Warum schickt ihr die Juden in unser Land, die ihr nicht haben wollt und helft ihnen, dass sie uns unser Land wegnehmen?

Und natürlich habe ich auch das Gegenteil gehört. Israelis, die verbittert beobachten, wie die Europäer das Existenzrecht der Palästinenser durchsetzen wollen; die den Libanonkrieg als Überfall Israels auf ein unschuldiges Land sehen; die Israels starke militärische Präsenz und Politik in den Besetzten Gebieten kritisieren. Die sagen mit gleichen Worten: Ihr versteht uns nicht. Was wollt Ihr Europäer uns vorschreiben?

Ich bin mir nicht sicher, ob ich ein Recht dazu habe, hier in Jerusalem zu sein und zuzusehen, wie sich Israelis und Palästinenser um dieses Land streiten müssen, um sich ihr Lebensrecht zu sichern.

Ich sitze dann in dem Gottesdienst in der Erlöserkirche. Ich will zur Gemeinde gehören, die den alten Psalm betet und den Gottesdienst feiert. Und ich merke, wie ich mich schwer tue. Es herrscht kein Friede in den Mauern Jerusalems. Die Menschen sind nicht glücklich, nicht die im Westen und nicht die im Osten der Altstadt mit ihrer Klagemauer und ihrer Al-Aqsa Moschee und mit ihren Kirchen, die über den Spuren von Jesus von Nazareth erbaut worden sind. Und es kommen nicht alle an, die sich aufmachen, um den Namen Gottes hier zu preisen. Nicht Liebe, sondern Hass wird gesät in dieser Stadt.

Aber in einem Satz, in dem Stoßgebet kann ich mich einfinden und niederlassen: „Wünschet Jerusalem Glück! Es möge wohlgehen denen, die dich lieben!“



15. Oktober 2006

Berichte aus Jerusalem

Berichte aus Jerusalem

„When Arabs run riot the Army has to shoot“


Von Römischen Feldherrn haben wir Zitate überliefert, die kurz und knapp und gleichzeitig von geradezu poetischer Kraft sind. Das bekannteste ist das von Cäsar, der seinen Eroberungsfeldzug nach Gallien mit drei Worten zusammengefasst hat: Veni, vidi, vici – ich kam, ich sah, ich siegte.

Hier ist ein ähnlich kraftvoller Ausspruch eines Militärs, die Antwort des Verbindungsoffiziers der Zivilen Verwaltung für die OPT (Occupied PalestinianTerritories), Zeit 9.30 am Freitag, 13. Oktober, dem vorletzten Freitag im Fastenmonat Ramadan; auf die Frage von Roni Hammerman von der Organisation Machsom Watch, die am Qualandiya Kontrollpunkt auf der Jerusalemer Seite gestanden, die Schüsse von Lärm- und Tränengas-Granaten gehört hatte und die Menschen auf der Seite der Westbank hatte rennen sehen, die also ihr Telefon genommen und im Verbindungsbüro der Israelischen Armee angerufen und gefragt hatte, warum schießt ihr, warum jagt ihr die Menschen, die an diesem Feiertag nach Jerusalem zur Al-Aqsa Moschee wollen? Die Antwort, die sie erhielt, war militärisch kurz und knapp und kraftvoll in ihrer sprachlichen Prägnanz: „When Arabs run riot the Army has to shoot – wenn Araber randalieren, muss die Armee schießen“. Die Logik der Kriegsführung erlaubt diese Prägnanz, das militärische Überlegenheitsgefühl erlaubt die poetische Kraft.

Die Palästinenser, um nun von ihnen zu reden, waren, wie gesagt, auf dem Weg zum Mittagsgebet, das an diesem letzten Freitag im Fastenmonat Ramadan eine unvergleichlich höhere Wertigkeit besitzt, als an normalen Tagen. Einige von ihnen hatten fünf, sechs Stunden Anfahrt hinter sich, sie waren in Festkleidung und in erwartungsvoller Stimmung. Auf dem Hof zwischen Felsendom und Al-Aqsa Moschee versammeln sich an solchen Tagen bis zu einer halben Million Gläubige. Sie stehen dann dicht gedrängt, Schulter an Schulter und die gemeinsamen Bewegungen, das Erheben der Arme, das Sitzen auf den Unterschenkeln, das Berühren des Bodens mit der Stirn und das erneute aufrechte Stehen – das schließt jeden einzelnen Gläubigen in die große betende Gemeinde ein, macht die Gemeinschaft körperlich spürbar. Dafür fahren die Muslime in diesem Land weit, und immerhin ist die Al-Aqsa Moschee in Al Quds, Jerusalem, das dritte hochbedeutsame Heiligtum im Islam. Aber der Weg dorthin ist mühsam. Sie können nicht die direkte, schnelle Straße aus ihrem palästinensischen Dorf nach Jerusalem nehmen, weil die in das israelische Straßennetz integriert ist, die sie nicht benutzen dürfen. Sie müssen Umwege fahren und bezahlen. Dann kommen sie am Kontrollpunkt an, der das Palästinensergebiet von Ostjerusalem, das Israel annektiert hat, trennt. Und hier kriegen einige von ihnen Ärger.

Durch Radio und Zeitungen haben sie erfahren, dass an diesem Tag Männer über 45 und alle Frauen Zugang nach Jerusalem haben. Jetzt werden auch Männer über 45 zurück gewiesen, Familien haben Probleme mit ihren 12 oder 13-jährigen Söhnen, Ehefrauen finden sich auf der anderen Seite wieder, aber ohne Ehemann und ohne Geld. Kleine Dramen spielen sich ab, Enttäuschungen machen sich breit. Einer hämmert in seiner Wut gegen die Eisengitter. Daraufhin jagen die Beamten der Grenzpolizei alle Menschen aus dem „Terminal“, wie sie das Gebäude nennen, indem sie ihrerseits gegen die Gitter schlagen, aber mit ihren Knüppeln und mehrere von ihnen. Dazu brüllen sie Befehle in Hebräisch, „raus hier!“ oder so ähnlich. Es ist ein Höllenlärm. Die Leute fliehen nach draußen, aber dort stehen ja andere Menschen in dichten Reihen; keiner hat mitgekriegt, was da gelaufen war, die allgemeine Wut der Menge, die doch nur rechtzeitig zum Mittagsgebet nach Jerusalem will, steigt. Das Chaos ist perfekt.

Was ich jetzt erzähle, habe ich selbst gesehen, zu dieser Zeit war ich schon am Kontrollpunkt. Aber ich war nicht durch die Kontrolle durch gegangen, sondern musste von der Jerusalemer Seite, wo der Durchgang für Autos ganz und gar geschlossen war, durch ein hohes Eisengitter hindurch mit ansehen, was dort geschah. Soldaten, etwa ein Dutzend von ihnen, kamen von dem improvisierten Standort, den sie an diesem Tag aufgebaut hatten, gelaufen. Sie bauten sich zwischen Terminal und dem Parkplatz, auf dem die Menge jetzt stand, auf. Zu ihnen kamen zwei berittene Beamte der Grenzpolizei, alle schwer bewaffnet, mit schusssicheren Westen und Gewehren in der Hand. Das ist schon ein Anblick, der Angst und Aggression schürt. In diesem Augenblick begann der Muezzin vom Minarett des nahen Dorfes zu singen. Es war schon einige Zeit klar, dass niemand von denen, die hier am Kontrollpunkt standen, die Al-Aqsa Moschee erreichen würde. Aber jetzt war es offensichtlich.

Einige junge Männer, die offensichtlich durch die erste, aber nicht durch die zweite Kontrolle gekommen waren, bauten sich auf, in drei Reihen, etwa 40 oder 50 von ihnen. Schulter an Schulter stehend begannen sie das vorgeschriebene Gebet zu verrichten. Gesicht gegen Jerusalem mit der Altstadt, dem Felsendom und der Al-Aqsa Moschee gerichtet, das hieß: gegen das „Terminal“, das von einer Reihe schwer bewaffneter Soldaten bewacht wurde. Sie beugten sich nieder, sie führten die Hände über das Gesicht, sie berührten mit den Stirnen den Boden, sie verharrten in Ruhe und erhoben sich und wiederholten das. Es war still, viele Menschen, die zwar zum Mittagsgebet gehen wollten, sich aber nicht trauten, sich diesen Reihen der betenden Männer anzuschließen, standen still und sahen sich beunruhigt nach Fluchtwegen um. Zwischen dem „Terminal“ und dem Kreisverkehr, der die Straßen aus den Vorstädten und aus dem Kontrollpunkt mit dem Dorf Qualandiya verbindet, befindet sich Mauer, ein Stück zusätzlicher, vorgelagerter Mauer, vielleicht für die Verteidigung des „Terminals“ gebaut. Der Parkplatz, auf dem sich diese Szene abspielte, war also nur durch eine Lücke in der Maueranlage mit der palästinensischen Seite verbunden.

Hatten die Männer ihr Gebet beendet? Auf Kommando bedeuteten die Soldaten der Menge, zurück zu weichen, schossen in die Luft und warfen Tränengasgranaten. Und jagten die Menge durch die Mauerlücke hinaus, in Richtung Qualandiya. Die Mischung von Schüssen, Schreien und Kommandos, von rennenden Menschen und nachsetzenden schwer bewaffneten Polizisten oder Soldaten ist immer erregend. Aber hier konnte man auch die Pferde in die Menge reiten sehen, sie schnauben hören und sehen, wie entschlossen ihre Reiter in die Menge hielten.

Nun muss ich nachholen, dass an diesem Tag nicht nur die Durchfahrt für alle Fahrzeuge gesperrt war, was bedeutete, dass die Menschen ihre Autos parken und auf der anderen Seite in Busse steigen mussten. Sondern zusätzlich hatte die Armee eine Straßenblockade errichtet und bei einer ersten Kontrolle schon viele zurück gewiesen, hauptsächlich aber die Menge aufgehalten, so dass die Palästinenser, die nun vom Terminal vertrieben wurden, zum Teil schon durch zwei Vor-Kontrollen gegangen und nun doppelt frustriert waren. Es bedeutete aber auch, und das war, denke ich, für die israelische Armee und Polizei wichtig, dass einige hundert Meter entfernt eine weitere, viel größere Menge wartete und in Schach gehalten werden musste. Es überraschte mich also nicht, dass da, wo ich stand, geschützt durch das hohe Gitter, eine weitere Gruppe von Soldaten, teilweise Scharfschützen in Stellung gegangen waren. Sie entsicherten ihre Gewehre und zielten. Und tatsächlich konnte ich in der Richtung, in die sie zielten, weit hinter dem Kreisverkehr, kleine Jungs sehen, die begonnen hatten, Steine zu werfen. Wo waren sie hergekommen?

Die Soldaten rannten hinter der Menge her, ich konnte nicht mehr sehen, wohin. Aber sie kamen nach einigen Minuten wieder. Sie hatten offensichtlich zwei Jugendliche festgenommen, die sie jetzt, jeweils zu zweit mit eingeklemmten Armen laufend zu ihrem Posten brachten, einer war etwa 24, der andere 18 Jahre alt. Sie wurden in ein geschlossenes Fahrzeug geschoben und weggebracht, ich konnte nicht feststellen, wohin.

Nach ca. 15 Minuten, war der Spuk vorbei. Wir waren durch die Kontrolle auf die palästinensische Seite und durch die Mauerlücke gegangen. Die Taxifahrer und die Leute, die bei ihren Autos gestanden hatten, waren zurückgekehrt. Geruch von Tränengas lag leicht in der Luft, die Steine vom Vormittag, an dem die „Araber randaliert“ hatten, Patronen und Gummiteile der Tränengasgranaten und Lärmbomben, aber auch Pferdeäpfel lagen auf dem Boden des Parkplatzes. Dahinter, beim Kreisverkehr, bauten die ersten Brotverkäufer ihre Stände auf und nahmen von Jungs, die sie als Träger angeheuert hatten, die breiten Tragen mit den Pyramiden von Brotlaiben, die zum abendlichen Fastenbrechen im Ramadan gehören, entgegen. In der Straße, die ins Dorf führte, boten uns die Geschäftsleute einen Kaffee an.


Hinter uns, die Soldaten und Polizisten, zündeten sich Zigaretten an. Sie wirkten erleichtert.

So einfach könnte das Leben sein?

Zu diesem Zeitpunkt tippte Roni Hammerman von Machsom Watch, die nach dem kleinen Zwischenfall vom Vormittag nach Hause gegangen war, ihren Bericht in ihren Computer und hielt dort den kernigen Satz des Verbindungsoffiziers der israelischen Verteidigungskräfte fest; den Satz, der in seiner poetischen Dichte und in seiner strategischen Prägnanz die Vorfälle dieses vorletzten Freitags im Fastenmonat Ramadan beurteilt, aber die Kausalität umkehrt: „When Arabs run riot, the Army has to shoot!“