Sunday, October 19, 2008

Ein Brief um Abschied

Aus Jerusalem, der Heiligen Stadt
Am 6. September, dem ersten Freitag im Ramadan


Lieber Jürgen,
Vielen Dank für Deine aufmunternden Worte für meinen Abschied aus der Heiligen Stadt. Du setzt die Heilige Stadt in Anführungszeichen und schreibst in Klammern, immer noch hieltest Du an diesem Titel fest. Dazu hatte ich Dich zwar meinerseits nie ermuntert. Aber jetzt will ich darauf eingehen.

Zuerst schulde ich Dir Dank! Du hast mich auch dieses Jahr treu begleitet, bist mir auf meinen Wegen und zu den Begegnungen in Bethlehem und seinen umliegenden Dörfern und in Yanoun, dem kleinen Bergdorf gefolgt. Du hast mir geholfen, die kleinen Schrecken des Alltags und das große Entsetzen über die Folgen der Besetzung Palästinas für beide, Besetzte und Besatzer, zu reflektieren und zu ertragen. So warst Du mit mir in Bethlehem und in Yanoun. Und immer waren wir zwischendurch auch in Jerusalem, wo unser Büro ist und wo ich auch eingesetzt wurde, wenn kein anderer da war. Das war oft eine zusätzliche Last, vor allem für die Seele. Denken wir also, weil es Dir ja um die „Heilige Stadt“ ging, an Jerusalem.
"Der Lastenträger von Jerusalem", Bild von Sliman Mansour

In Jerusalem musste ich Hausabrisse und Vertreibung von Familien begleiten. Aber ich hatte auch Zeit, mich durch die Stadt zu bewegen, zu sitzen und auf jemanden zu warten, Teil der Menschen zu werden, die in Jerusalem leben oder sie als Ziel einer Reise erleben, als Geschäftsleute, Pilger oder Touristen. Und dann wieder die Beobachtung von Hausabrissen, von Besetzung und Raub dieser Häuser durch jüdische Siedler und Vertreibungen. Was für eine schreckliche Aufgabe! Und was für ein Abschied jetzt, zu sehen, dass sich in den drei Jahren, in denen ich diese Aufgabe wahrnehme, nichts verändert, nichts verbessert hat und dass der Mut, an eine gerechte Lösung zu glauben, gesunken ist, vor allem bei Palästinensern. Sie haben begriffen, dass die Zeit gegen sie arbeitet. Die Welt sieht und sieht doch nicht, aber sie gewöhnt sich an die Zustände in Palästina und Israel. Und sie lässt das Übel gewähren. So sehen die Palästinenser das. Und halten immer noch daran fest, dass Jerusalem ihre Heilige Stadt und Palästina ihr Land ist, ein magisches Land, geschaffen für Träume und Visionen.
"Eine Frau trägt Jerusalem", Bild von Sliman Mansour

Ich stehe auf der Dachterrasse des Hotels, in dem ich die letzten zwei Nächte verbringe. Die Stadt ist nur an ihren Lichtern zu erkennen, ganz nah der so genannte Davidsturm, rundum die alte Festungsmauer aus der Glanzzeit des Osmanischen Reiches, die Altstadt mit ihren Türmen und Kuppeln, im Westen die neue jüdische Stadt und weiter an den Rändern die Siedlungen, die die Sieger der vergangenen Kriege in das ehemalige Umland gelegt haben. Dort waren früher die Dörfer der Palästinenser. Was immer man sieht, in dieser Nacht und in allen Nächten hier, es ist von diesem traumatischen Szenario bestimmt: Die Sieger übernehmen rund um die palästinensische Stadt Land um Land und mitten in ihr Haus um Haus. Es ist ihre Heilige Stadt, die Stadt unter dem Heiligen Zion. Sie haben ein Gesetz und danach ist Jerusalem die ungeteilte Hauptstadt Israels auf ewig.

Heute ist der erste Freitag im Fastenmonat. Vor vier Tagen hat der Ramadan begonnen. Ein Freitag im Fastenmonat bietet allen Muslimen im Land die Möglichkeit, ihrer Pflicht nachzukommen und in der Al Aqsa Moschee oder auf dem großen Platz vor ihr, dem Haram as-Sharif zu beten. Viele haben ihre festlichen Kleider an, weiße Gewänder und die weißem Keffiyas der Männer, die die Hadsch, die Pilgerreise nach Mekka gemacht haben. Die Frauen tragen festliche, bunt bestickte Kleider und schöne, weite Kopftücher. Es ist ein Festtag. Keine Verkäufer von Gebäck, Kaffee und Zigaretten stehen hier heute. Essensgerüche, Wasserflaschen, Zigarettenschachteln sind verbannt. Alle fasten den hellen Tag lang. Das Gebet an diesem Freitag und ganz und gar an diesem Freitag in der oder vor der Al Aqsa Mosche ist der Höhepunkt der Fastenwoche, es bedeutet tausendmal mehr, als ein gewöhnliches Gebet zu Hause. Aus dem ganzen Land kommen sie. Frühmorgens um fünf Uhr stehen die ersten vor den Toren – nicht vor den Toren der Stadt, soweit kommen nicht alle – sondern vor den Checkpoints. Hier haben Militär und Grenzpolizei sich vorbereitet und haben eine Absperrung vor der Sperranlage, hier der 12 Meter hohen Mauer, gebaut. Dort stehen die Soldaten, auf umliegenden Dächern sind ihre Scharfschützen und sind Maschinengewehre postiert. Jeeps sind so abgestellt, dass die schmalen Eingänge zwischen den Betonblocks, durch die Männer und Frauen getrennt und einzeln durch gelassen werden, geschlossen werden können. Die Soldaten lassen nur Männer über 50 und von den Jüngeren nur die mit Sondergenehmigung für Religiöse Zwecke durch. Drinnen, im Checkpoint werden die Männer noch zweimal kontrolliert, auf Leib und Gepäck und auf ihre Papiere. Die frommen Männer nehmen das auf sich, das Warten und die Kontrolle dauern teilweise bis zu zwei Stunden, aber das sei wesentlich besser als im vergangenen Jahr, sagen die Beobachter. Die Frauen über 45 und die zwischen 35 und 45 mit der „Religiösen Genehmigung“ dürfen den neu geschaffenen Eingang, das dritte Tor durch die Mauer benutzen, dessen Bau wir in den vergangenen Monaten mit der Sorge beobachtet haben, ob das nur für Touristen oder auch für Frauen, Kinder und Kranke geöffnet werden wird. Die Frauen müssen auch nicht in den Terminal hinein. Sie werden nur einmal, „manuell“ von Soldatinnen kontrolliert und dann am Terminal vorbei zur Straße geleitet, wo die Busse wieder stehen, mit denen sie angereist waren. Dort stehen sie, beunruhigt, die meisten kennen dieses Geschäft an den Checkpoints nicht. Sie warten auf ihre Männer, die hoffentlich durch gelassen werden… Dann fahren sie gemeinsam nach Al Quds, „Der Fernen“, wie die Stadt in der muslimischen Tradition heißt. Sie ist die dritte der Heiligen Städte, nach Mekka und Medina. Al Quds, wohin der Prophet Mohamed in einer seiner nächtlichen Visionen versetzt worden war und wo ihn der Engel Gabriel direkt in den offenen Himmel gebracht hatte. Al Quds ist für die Palästinenser die natürliche Hauptstadt und für alle Araber und alle Muslime die unaufgebbare Heilige Stadt.

Heute hatte ich kein Frühstück, weil ich zu früh schon das Hotel verlassen musste. Aber gestern war ich noch im Knights Palace. Mein Gegenüber am Frühstückstisch, den ich unschwer als Pilger aus Down-Under, Queensland in Australien, wie er dann erklärte, erkannte, erzählte von seiner Pilgerreise im Heiligen Land. Er war aber, ohne sich das klar zu machen, nur in Israel gewesen. Für 2 Stunden war seine Pilgergruppe mit dem Bus über die Grenze nach Bethlehem gefahren. Es ging ganz leicht, keine 5 Minuten mussten wir warten und die Soldaten waren sehr höflich, erzählte er. Er fragte auch, was ich denn hier mache und hat kurz zugehört, aber verstanden hat er das nicht. Das Heilige Land lag einfach und zugänglich vor ihm: Die Via Dolorosa, die Grabeskirche in Jerusalems Altstadt, Nazareth, der Berg der Verklärung, der See Genezareth – das alles hatte er in wenigen Tagen gesehen. Palästinensischen Christen war er dabei kaum begegnet, der Führer war ein Israeli und die Priester, die die Pilgerandachten für sie gehalten hatten, waren Englischsprachig, erinnerte er sich. Er hatte das Heilige Land der Christen gesehen, dem Islam und Judentum war seine Reisegruppe nicht begegnet. Dafür müsse man bestimmt eine längere Reise buchen, gab er zu. Aber die Hauptsache, die Heiligen Stätten, die hätten sie doch gesehen.

Heute Abend werde ich eine Freundin in Westjerusalem besuchen. In der Synagoge nicht weit von ihrem Haus war ich schon zweimal, sie ist orthodox und gleichzeitig politisch aufgeschlossen, aber Männer und Frauen sitzen noch getrennt. Unsere Gastgeberin geht gern in eine andere, ganz kleine Synagoge, wo diese Trennung aufgehoben ist. Zusammen mit einem Kollegen aus unserem Begleitprogramm werden wir bei ihr das Sabbatmahl einnehmen. Wir werden deutsch sprechen, denn sie ist Deutsche, vor vielen Jahren ins Land gekommen und zum Judentum konvertiert. Nach dem Besuch wird Zeit sein, die Nachtstunden des Sabbat an der Klagemauer zu erleben, wo Tausende von Frommen aus Jerusalem, besonders aus Mea Schearim, dem Stadtviertel der „Religiösen“, wie diese meist ganz in Schwarz Gekleideten von ihren säkularen Mitbürgern genannt werden, hineilen werden. Einzelne Männer, Familien, Gruppen von Jugendlichen werden still oder singend und tanzend durch die Tore der Altstadt ziehen. Die Muslime und Christen ziehen sich dann zurück. Diese Nachtstunden zwischen Freitag und Samstag gehören den Juden. Die Altstadt ist voll von ihrem Gedränge. Touristen und Pilger, werden dann, falls sie nicht ohnehin in ihren Hotels sind, an den Rand gedrängt oder angerempelt, wenn sie nicht Platz machen. An der Klagemauer herrscht feierliche Stimmung. Jerusalem, die Stadt Davids, die Stadt des Ersten und des Zweiten Tempels ist auf ihre jüdische Mitte, die Klagemauer konzentriert.

Zwischen meinem morgendlichen Einsatz am Checkpoint und meinem Besuch im jüdischen Jerusalem hatte ich Zeit – nicht nur diesen Brief anzufangen – sonder für einen Spaziergang in der Altstadt. Ich habe eine Künstlerwerkstatt für Keramik besucht. Es ist schön, sich die großen Schalen und Vasen, die kleinen Gegenstände und Kacheln anzuschauen. Anders als die Läden, die überall in den Souks Andenken und Gebrauchskeramik mit Motiven Jerusalems anbieten, ist hier alte armenische Kunst zu sehen. Kräftige Farben und uralte Motive, die die Armenier mitgebracht hatten, als sie vor hunderten Jahren in diese Provinz des Osmanischen Reiches kamen, schmücken die Schalen, Vasen und Kacheln. Eine Kachel hat mir gefallen, weil sie die Skyline von Jerusalem, wie ich finde, mystisch überhöht darstellt: die Hurva Synagoge (noch als Ruine), Grabeskirche und Erlöserkirche, das Minarett zwischen den beiden und den Felsendom mit der goldenen Kuppel. Man kriegt das sonst kitschig in allen Varianten. Hier hat mir gefallen, dass die armenische Farbenpracht das ganze in eine unwirkliche, paradiesische Ebene verlegt. Die Stadt Gottes, die er vom Himmel herablassen wird. Heilig wird sie sein, wo die Menschen heute noch ihre eigene Geschichte, ihre Schmerzen und ihre Träume entheiligen. Wo sie mit Stiefeln, mit Turnschuhen oder Sandalen ihren Wünschen und Wegen folgen.

Die Heiligkeit einer solchen Vision, wie der auf der armenischen Kachel, kann ich gerne annehmen. Sie zeigt die Stadt Gottes, nicht der Menschen, wie Gott sie vorgibt und wie sie das Treiben der Menschen zum Guten wenden könnte. Diese Vision hilft mir, die Hoffnung auf ein Ende der Angst, ein Attentäter könnte sich unter die Betenden mischen, ein Ende der Angst, die Mauern und Scharfschützen braucht, ein Ende der Ohnmacht, mit der die Verlierer der Kriege Israels hier ihre Ansprüche erheben und ein Ende der Ignoranz, mit der christliche Pilger tote Steine in diesem Land anbeten und ein Ende der Besitzansprüche,– sie hilft mir, die Hoffnung auf ein Ende dieser heillosen Zeit zu bewahren.

Also, mein lieber Freund, Du hast noch in der kommenden Woche Geburtstag. Und dies hier ist mein Gruß für Dich. Die Kachel nehme ich mit auf meinen Heimweg. Wir werden uns bald sehen, aber Du sollst auch wissen, dass Du mich auf meinem letzten Gang durch die Stadt begleitet hast. Ich werde noch ein paar Fotos machen und Dir mitschicken – von der „Heiligen Stadt“, wie Du nicht lassen kannst, zu sagen.

Salaam maleikum! Und Shabbat Shalom! wie man ab heute Abend hier sagen wird! Friede sei mit Dir, wie die Anfänger unseres christlichen Glaubens sich noch begrüßt und verabschiedet haben!
Dein Gottfried

Thursday, August 28, 2008

Frieden für Yanoun

Das Fenster
Das Fenster ist weit offen, es ist Sommer. Hinter mir sind die Schüler laut und ausgelassen. Es ist der letzte Ferientag, aber aus Jerusalem ist eine Gruppe mit Musikinstrumenten, Spielzeug und guter Laune gekommen. Sie spielen mit den Kindern und die spielen begeistert mit.
Das Fenster ist weit offen. Wir sind in der Schule. Am gegenüberlegenden Hang sind keine Schafherden zu sehen, wie früher an Sommertagen. Überhaupt ist niemand dort auf diesem Hang, jetzt nicht und auch nicht zu anderen Zeiten. Es ist die Sicherheitszone einer nicht erklärten Grenze. Oben auf dem Kamm des Hügels stehen einige Häuser und Scheunen. Dort gibt es eine große Hühnerfarm, vielleicht auch andere Landwirtschaft. Aber das weiß hier im Dorf keiner. Niemand war jemals dort oben. Es ist zwar alles Land der Bauern hier unten im Dorf, aber sie dürfen dieses Land nicht mehr betreten. Oben sind die „Mustauteneen“, ein Wort, das Angst und Schrecken auf den Gesichtern der Kinder auslöst. Jüdische Siedler, die sich dieses Land genommen haben; die dazu kein Recht haben; die aber von der Armee geschützt werden. Und darauf haben sie ein Recht. Die palästinensischen Bauern haben kein Recht, zumindest keines, das sich praktisch durchsetzen ließe. Sie haben ihr Land verloren. Sie haben ihre Viehherden zu großen Teilen verloren, weil sie keine Weideflächen mehr haben und auch die Äcker zum Jordantal hin nicht mehr, auf denen sie das Winterfutter für Rinder und Schafe und Pferde angebaut hatten. Sie haben ihre Bewegungsfreiheit verloren und müssen weite Umwege fahren, wo sie früher über die Hügel gelaufen sind. Und sie sollen vertrieben werden.

Das Fenster ist weit offen. Leer liegt der Hang in der Sommerhitze. Und es gab Tage und Wochen, in denen auch das Schulgebäude leer war. Die Fenster hatten die Bauern, als sie ihr Dorf verlassen mussten, offen gelassen. Das war im Oktober 2002. Der Lehrer hatte seine Kinder verabschiedet. Die Familien waren geflohen. Der Druck durch die jüdischen Siedler war unerträglich geworden. Tag und Nacht waren die Siedler in das Dorf gekommen, maskiert, mit Hunden, manchmal auf Pferden. Sie hatten die Wassertanks der Bauern umgestürzt. Sie hatten den Generator zerstört. Sie hatten im Brunnenschacht ihre Hunde gebadet. Sie waren mit Feuerwaffen gekommen und hatten geschossen. Es hatte einen Toten gegeben, Hani Ben Maniyeh, 24 Jahre alt. Eines Tages hatten die Siedler klar gemacht: “Wir wollen euch am nächsten Sabbat hier nicht mehr sehen. Verlasst das Dorf, geht nach Aqraba“. Und zum ersten Mal nach 1947 und 1967 hatte die Siedlungspolitik Israels ihr Gesicht gezeigt und ein palästinensisches Dorf komplett geräumt.
(Nachzulesen bei: Living with Settlers, Interviews with Yanoun Villagers, von Thomas Mandal)

Das Schulgebäude war leer. Das Dorf war leer. Die Fenster standen weit offen, damit das Glas nicht von Steinen zerschmettert würde – falls eine Chance bestehen würde, eines Tages zurück zu kommen…

Das Dorf will leben
Heute sind fast 6 Jahre vergangen. Die Dorfbewohner sind zurückgekommen, weil engagierte Israelis sich für sie eingesetzt und die Geschichte in Zeitungen bekannt gemacht und vor den Behörden verhandelt haben. Weil Freiwillige aus Europa und Nordamerika mit ihnen zurückgekommen sind und seitdem Tag und Nacht im Dorf anwesend sind. Seit 4 Jahren sind das die Freiwilligen vom Ökumenischen Friedensprogramm.

Heute sind wir dabei, während die Kinder spielen: hingebungsvoll oder scheu, die jüngsten auf dem Schoß ihrer Väter, die älteren cool und distanziert. Alle machen mit, die Kinder aus Yanoun, die Helfer aus Jerusalem, die Giraffe an der Wand, die unbeirrt Frieden über Yanoun wünscht.

Alle Kinder kennen uns. Die Zeiten, wo die Kinder ins Haus gerannt sind, wenn sie Fremde im Dorf gesehen haben, sind vorbei. Jetzt wissen sie, wie die Siedler und wie die Freiwilligen aussehen. Sie grüßen uns freundlich, melden uns bei ihren Eltern an, damit wir auf einen Kaffee dableiben. Oder geben dem Esel, auf dem sie reiten, einen extra Schlag, damit er dieses kokette Trippeln beginnt. Ein freches Kerlchen ist immer dabei: Hier in Yanoun ruft er den Freiwilligen, wenn sie durchs Dorf gehen, zu:
„Mustauteneen!“. Beim ersten Mal hatte er Erfolg: Die Freiwilligen haben sofort ihre Handys genommen, hektisch gewählt und ans Ohr gehalten, haben sich umgedreht, um zu sehen, von wo die Gefahr kam und besorgte Gesichter gemacht. Aber jetzt lachen wir nur noch und freuen uns, dass man über „Mustauteneen“, jüdische Siedler, auch lachen kann.

Die Giraffe
Die Truppe um Ghassan, die aus Jerusalem gekommen ist, lässt die Kinder tanzen, singen und Spiele machen, bei denen die Schnellen oder die Schlauen gewinnen. Aber sie geben auch den Langsamen eine Chance. Die Gesichter der Kinder zeigen alle Gaben, die Menschen brauchen, um die Welt zur Heimat von Liebe und Schönheit und Recht und Vertrauen in den Nachbarn zu machen. Im Hintergrund ist die Wand bemalt, zum Beispiel mit einer Giraffe (von einem Berliner Graffitikünstler), die in einer Sprechblase Frieden für Yanoun ansagt.

Einige Väter sitzen dabei und sind stolz, wenn ihre Kinder einen Punkt machen. Aber die Väter machen auch Tee für die Erwachsenen und haben überhaupt das Ganze organisiert. Die Mütter kochen – das erfahren wir erst später, als die Kinder uns Msakhkhan, Hühnchen auf Brot, mit Olivenöl getränkt, bringen. Es ist ein Tag, der mehr wie die vielen Alltage, die aus Arbeit, Furcht und langsam wachsendem Vertrauen besteht, fröhlich ist. Das Dorf feiert seine Kinder. Am Abend spielen die großen Jungs Fußball, vor der Kulisse des Dorfes, der verbotenen Hänge und der Stallungen der jüdischen Siedler.

Vielleicht ist das Offene Fenster ein gutes Symbol: dass die Schule offen ist für eine Zukunft und für eine Hoffnung, dass diese Kinder ein Leben ohne Besetzung und ohne Siedlerkrieg vor sich haben.

Fotos:
Spieletag in der Schule
Offnes Fenster mit Blick auf den Hang und die Siedler
Zuschauer
Die Giraffe grüßt
Vater und Tochter

Sunday, August 17, 2008

Der Maler in Yanoun

Bevor wir ihn sehen, hören wir ihn: den Hahn. Es ist ein schöner Hahn, mit prächtigem Gefieder und hohem Kamm. Er treibt seine Hennen von den Fremden, die er in seinem Revier sieht, weg.

Der Bauer
Najeh, den wir seiner Bilder wegen besuchen wollen, ist nicht zuhause. Er arbeitet in seinem Olivenhain, er erntet Mandeln. Und er ist allein. Ich mache mich auf den Weg und nach 15 Minuten habe ich ihn am Hang östlich vom Dorf gefunden. Wir begrüßen uns und ich helfe ihm beim Einsammeln der Mandelfrüchte. Er will nicht, dass ich arbeite. Setz Dich, mein Lieber, sagt er, setz Dich dort in den Schatten. Aber ich will ihm doch helfen. Najeh ist allein. Seine Frau stammt aus dem Nachbardorf Beit Furik. Dort ist sie jetzt mit den Kindern und verbringt die Ferien bei ihrer Familie. Najeh versorgt seinen alten Vater und das Haus hier in Yanoun. Und er erntet die Mandeln. Er hat viele Bäume und er muss länger als die Nachbarn arbeiten, weil er allein ist. Wir schaffen drei Bäume an diesem Vormittag. Und weil die Mandelfrüchte reif sind, fallen die Nüsse aus dem Fruchtfleisch und wir haben fast nur die Nüsse, keine Früchte im großen Sack. Najeh schultert den vollen Sack und trägt ihn den Hang hinunter und hinüber zu seinem Haus. Das Werkzeug, eine lange Stange zum Schlagen und Schütteln der Zweige, die Säge und den Eimer lässt er unter einem der Bäume für den nächsten Tag liegen.
Leben unter den Siedlern
Zuhause bietet er mir Tee an. Dann entschuldigt er sich. Es ist Mittagszeit und er muss sein Gebet verrichten. Dann muss er den Vater, Abu Najah, versorgen. Der ruft ungeduldig. Der Vater ist an die 90 Jahre alt, blind und trägt einen Katheder. In den gewalttätigen Jahren, als die Siedler sich oben auf den Bergkuppen niedergelassen, das Land geraubt und die Dörfler regelmäßig überfallen haben, ist Abu Najeh zusammengeschlagen worden und hat sein Augenlicht verloren. Jetzt ist er auch verwirrt. Najeh geht sehr behutsam und geduldig mit ihm um. Normalerweise ist es jetzt ruhig in diesem Haus, weil die junge Familie die Ferien doch drüben in Beit Furik verbringt. Und heute muss Najeh seinem Vater erklären, dass die „Ausländischen“ zu Besuch seien. Audrey, meine englische Kollegin, ist jetzt dazu gekommen. Auch sie interessiert sich für die Bilder. Najeh ist nämlich ein Maler, aber dazu komme ich noch.
Najeh hat spät geheiratet. Er hat als junger Mann in Oman für eine Schifffahrtsgesellschaft gearbeitet. Er ist nach Hause gekommen, als seine Eltern ihn gebraucht haben. Er hat geheiratet. Seine Frau Huda – jetzt Umm Ahmed, weil der erstgeborene Sohn Ahmed heißt – stammt aus dem Nachbarort. Najeh musste nur den Hügel, auf dem die Oliven- und Mandelbäume seiner Familie stehen, hinauf gehen, dann den felsigen Hang, den die Schafe beweiden, und auf der anderen Seite den Hang wieder hinunter. Dort liegt Beit Furik, eine kleine Stadt. Es war ein Weg von 25 Minuten, ich war ja ein Stück jünger, lacht er. Aber diesen Weg kann er nicht mehr gehen. Oben ist jetzt einer der Siedler-Vorposten, mit Stallungen für die Hühner. Der jüdische Siedler betreibt dort oben eine große organische Hühnerfarm und beliefert halb Israel mit Eiern. Und jedenfalls ist das besetzte Land nicht zugänglich für die Bauern, denen das Land doch gehört. Jetzt ist der Weg nach Beit Furik teuer und dauert etwa eine Stunde mit dem Auto. Aber Najeh wird gar nicht durch den Kontrollpunkt gelassen, mit dem die israelische Armee dort das Städtchen und zwei kleinere Dörfer abgeriegelt und gesperrt hat. Nur die Bewohner dürfen rein und raus. Auch sie sind, wie die Bauern hier in Yanoun, von Siedlungen umgeben, müssen deren Straßen meiden und auf ihr angestammtes Land und Quellwasser verzichten. Das ist unser Leben, schließt Najeh seine Darstellung. Und so verbringt seine Familie die Ferien jenseits des Hügels bei der Großfamilie seiner Frau.
Der Gastgeber
Er könnte so leicht auf die Hügelkuppe laufen und von dort aus rufen oder winken. Aber dieser Versuch wäre ein Abenteuer, das schmerzlich oder tödlich für ihn ausgehen könnte. Najeh hat die Zeit, in der die Siedler auf die Bauern geschossen haben, die ihre Oliven und Mandeln ernten wollten, und die ins Dorf runter kamen und im Brunnen gebadet haben, nicht vergessen.
Wir sitzen mit Najeh und trinken Tee. Trink Tee, mein Lieber, nimm viel Zucker, sagt er zu mir, weil ich ihm doch bei der Ernte geholfen habe. Aber wir interessieren uns für seine Bilder. Najeh ist ein Maler. Wenn er sich von seiner Arbeit oder von dem Druck, der über dem Dorf liegt, erholen will, malt er. Es sind sehr farbintensive Bilder, vielleicht naiv, aber sehr ausdrucksstark. Mir gefallen die Bilder, die er von den Granatäpfeln gemalt hat.

Der Maler
Im Garten hat er einige Granatapfelbäume. Unter dem kleinsten steht ein gelb blaues Gefährt, das die Kinder zurück gelassen haben. Ein anderer Baum wirkt wie ein Wettstreit zwischen Rot und Grün. Daneben explodieren gelbe Früchte am mattgrünen Kaktusstrauch. Najeh liebt seinen Garten. Auf einem der Bilder hat er die Grantäpfel mit der palästinensischen Flagge kombiniert. Und das dynamische rote Dreieck der Flagge hat er als Herz dargestellt. Die roten Tropfen auf der Hand können als Fruchtsaft oder als Herzblut gedeutet werden. Ist es nicht ein schmerzhaftes Bild? Ja, sagt er, der Schmerz ist immer da. Mehr erklärt er nicht und das hätte ich von einem Künstler auch nicht anders erwartet. Er ist ein stiller, nachdenklicher Mann. Er sagt nicht alles, was er denkt. Und er weiß mehr, als er denken kann. Vielleicht malt der deshalb. Wir kaufen einige Bilder von ihm und verabschieden uns für heute.









Lachen
Draußen setzt sich der schöne Hahn noch einmal in Szene. Najeh, wieder ganz der Bauer, erklärt uns das aufgeregte Verhalten des Hahns, der eine unvorsichtige Henne vor uns vertreibt. Er ist ein guter Hahn, lacht er, er beschützt seine Frauen, aber seinen Hof kann er nicht verteidigen. Wir lachen auch. Und in dem Lachen ist wieder mehr, als wir denken können. Andererseits: Lachen ist doch eine schöne Abschiedsgeste.

Vor dem Bösen bewahren

Für ein Andachtsbuch für das Jahr 2010:
Leben und Wohltat hast du an mir getan, und deine Obhut hat meinen Odem bewahrt.
Hiob 10, 12
Christus betet: Ich bitte dich nicht, dass du sie aus der Welt nimmst, sondern dass du sie bewahrst vor dem Bösen.
Johannes 17, 15

Die Geschichte
Der Mann hatte allen Grund zu einer Verzweiflungstat. Seine Eltern waren aus ihrem Dorf vertrieben worden. Der Junge war mit ihrer Sehnsucht nach der Heimat als Flüchtling aufgewachsen. Mit 16 Jahren war er für 18 Monate im Gefängnis gewesen, weil er Steine gegen die Soldaten geworfen hatte, die sein Land besetzt hielten. Er trug Narben von der Zeit im Gefängnis. Mit 32 musste er mit ansehen, wie das Haus seiner Eltern, das sie sich unterdessen gebaut hatten, von Soldaten abgerissen wurde, wie dabei seine Mutter von den jungen Soldaten angeschrieen und mit dem Gewehrkolben gestoßen wurde und sein Vater wenige Tage später an einem Herzschlag starb. Seine Mutter und Geschwister waren obdachlos. Die Schulden für den Hausbau und den Hausabriss waren immens. Es war ein Schicksal, wie es Hiob erleiden musste. Aber es war nicht nur Unglück, das die Familie erleiden musste, es war Böses. Der Mann äußerte sich nicht mit Wut, sondern mit Verzweiflung über sein zerstörtes Leben. Er wollte sterben. Der Tod sei besser, als dieses Leben…


Wie viel fehlte hier, dass er dem Bösen nachgeben und eine Rachetat ausüben würde?

Das Gebet Jesu aus dem Johannesevangelium zielt auf diese Situation: Das Böse ist Teil unserer Welt und unseres Lebens. Wir können die Augen davor verschließen, wir können es anderen überlassen, die mehr davon betroffen sind oder wir können Böses mit Bösem vergelten. Wir können uns aber auch dem Unrecht widersetzen, sogar den Rachegedanken, die sich anbieten. Und es ist gut zu wissen, dass wir Gott dabei auf unserer Seite haben.











Gebet:
Gott helfe dem Mann, der so viel Böses erlitten hat! Gott helfe uns, dass wir Böses nicht hinnehmen und auch nicht Bösem vergelten!

Lied (aus dem Evangelischen Gesangbuch, Seite 373, Vers 1):
Jesu, hilf siegen, du Fürste des Lebens,
Sieh, wie die Finsternis dringet herein,
wie sie ihr höllisches Heer nicht vergebens
mächtig aufführet, mir schädlich zu sein.
Satan, der sinnet auf allerhand Ränke,
wie er mich sichte, verstöre und kränke.
(Johann Heinrich Schröder, vor mehr als dreihundert Jahren gedichtet)

Gottes Kinder

Für ein Andachtsbuch für das Jahr 2010:
-Es wird keiner den andern noch ein Bruder den andern lehren und sagen: „Erkenne den Herrn“, sondern sie sollen mich alle erkennen, beide, Klein und Groß, spricht der Herr. (Jeremia 31, 34)
- Wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist. (1. Johannes 3, 2)

„Gott ist zu groß für nur eine Religion“, sagt ein Graffito an der Mauer in Bethlehem.
Ein Mitarbeiter im Friedensprogramm des Weltkirchenrates trifft die Vertreterin einer israelischen Menschenrechtsorganisation und klagt, dass er es nur mit feindseligen israelischen Soldaten und gewalttätigen jüdischen Siedlern zu tun habe; er könne die hebräische Sprache schon nicht mehr hören. Das klingt ernst, sagt die Freundin. Komm am Freitagabend mit uns in die Synagoge und dann zu uns nach Hause. Und so feiert der gestresste Christ den Sabbat mit jüdischen Freunden.
Später, in einem der palästinensischen Dörfer, die von jüdischen Siedlern terrorisiert werden, spricht der ökumenische Mitarbeiter den Imam an: Kann er mit ihm gemeinsam in die Moschee zum Abendgebet gehen? Der Imam zögert. Zugleich entbrennt ein politischer Streit zwischen dem Imam und jungen Männern aus der Stadt. Sie beschuldigen sich gegenseitig, zur Hamas zu gehören oder mit Israel zusammen zu arbeiten. Sie gehen im Streit auseinander. Der Imam nimmt den Christen an der Hand, zeigt ihm den Raum für die rituellen Waschungen und nimmt ihn danach mit in die Moschee, wo sie gleichzeitig ihre verschiedenen Gebete verrichten. –
Vater unser im Himmel, du hörst und du verstehst unsere Gebete! Lass uns auch verstehen was die anderen beten!

Evangelisches Gesangbuch Seite 344:
Vater unser im Himmelreich,
der du uns alle heißest gleich
Brüder sein und dich rufen an
und willst das Beten von uns han:
Gib, dass nicht bet allein der Mund,
hilf, dass es geh von Herzensgrund.
(gesungenes Glaubensbekenntnis, Vers 1, von Martin Luther vor fast fünfhundert Jahren gedichtet)

Tuesday, August 12, 2008

Tagebuch Yanoun

26. Juli 08, Samstag bzw. Sabbat
Reisen in den besetzten Palästinensergebieten
Jerusalem. Abfahrt vom Jaffator 10.45. Wir sind vier, die als erste in Yanoun Dienst machen sollen: Collin war vorher in Jayyous, Paula war in Tulkarem, Linda in Hebron und ich in Bethlehem. Wir haben alle unser Gepäck reduziert und die großen Koffer im Auguste-Viktoria-Gästehaus auf dem Ölberg gelassen. Mit dem Rest unseres Gepäcks gehen wir vom Hotel zum Jaffa-Tor und verhandeln mit den Taxifahrern dort den Preis zum Jerusalem-Hotel bzw. zur Grünen Busstation. Weil Sabbat ist, verlangen die Taxifahrer mehr als sonst und weil sie zusammenhalten, haben wir schlechte Karten. So fängt die Reise an; dann würden folgen eine Busfahrt nach Ramallah, ein Sammeltaxi zum Huwwara Checkpoint, ein weiteres Sammeltaxi nach Aqraba und ein letztes Taxi nach Yanoun. Das wären knappe 50 km auf direkter Strecke, würde aber gute zwei Stunden brauchen, wenn uns keine Straßensperre mit Kontrolle dazwischen käme. Auf der Rückfahrt von unserem Besuch zur Übergabe der Arbeit in Yanoun hatten wir 5 Stunden gebraucht. Reisen in den besetzten Palästinensergebieten ist eine zeitraubende und teure Angelegenheit. Flying Checkpoint

Bierbrauerei im Nahen Osten
So steigen wir hinter dem Qualandia Checkpoint aus. Dort steht Ghassan aus Aqraba, der uns an Ramallah vorbei die ganze Strecke durch fährt. Er macht für uns einen Abstecher nach Taybeh, wo eine alte christliche Stadt steht, die nicht nur mit ihren vier Kirchen interessant ist, sondern mit einem für Palästina wichtigen Unternehmen, das gegen alle Schwierigkeiten, die Israel gemacht hat, alle Kessel und Geräte importiert und aufgebaut hat: eine Brauerei, die beste im Nahen Osten. Ein christlicher Palästinenser, ein Unternehmer, der was für sein Heimatdorf, das im Gebirge Ephraim liegt und das den jüdischen Siedlern ein Dorn im Auge ist. Eine der Kirchen und die Brauerei haben wir besichtigt und sind weiter nach Yanoun gefahren, eine Kiste Bier neben den anderen Gepäckstücken. Bier werden wir in nächster Zeit nirgends zu kaufen kriegen, es ist „haraam“, ungehörig und verboten in der muslimischen Gesellschaft.

Handys
Unser Nachmittag in der kleinen Wohnung, die in den nächsten Wochen unser Zuhause sein wird, verläuft zunächst ruhig. Wir sortieren unsere mobilen Telefone: Wir sollen unsere alten Handys behalten, weil wir damit auch für unsere bisherigen Partner in Bethlehem, Hebron etc. erreichbar sind. Aber wir sollen auch die Telefone des letzten Teams von Yanoun an uns haben, falls die Dorfbewohner und die Kontaktleute aus den umliegenden Ortschaften uns brauchen. Dazu kommen zwei Handys der palästinensischen Telefongesellschaft, falls wir aus dem israelischen Funkverkehr rausfallen. Und schließlich haben zwei aus unserem Team ihre privaten Handys, macht insgesamt 12. Als sie alle auf dem Tisch liegen und wir noch hektisch am Eintippen und Testen sind, ob in den Handys alle wichtigen Kontaktpersonen gespeichert und für uns erkennbar sind und wir uns auch gegenseitig jederzeit erreichen können, klopft und rüttelt es unten an der Tür: Siedler im Dorf! Also Westen angezogen, in die Sandalen gesprungen, die Handys und Kameras in die Taschen und raus.

Siedler im Dorf!
Am Dorfbrunnen sind zwei junge Burschen, gerade mal 20 Jahre alt, zu Gange. Hier haben andere Siedler vor ihnen schon gebadet und den Brunnen verunreinigt. Diese hier haben einen Hund bei sich und einer hat sein Gewehr immer im Anschlag. Die Dorfbewohner sind ängstlich, immerhin waren sie vor einigen Jahren bereits aus dem Dorf vertrieben worden, sind mit Hilfe internationaler Organisationen zurück gekommen und seitdem von unseren Teams ständig bewacht. Und die Siedler lassen sich immer neue Bosheiten einfallen. Sie sind absolut illegal hier, aber das sieht ihnen der (israelische) Staat nach. Und selbst wenn die Armee kommen und sie aus dem Dorf raus bitten muss, werden sie in der Regel nicht bestraft. Die Burschen heute sind dreist und ängstlich gleichzeitig und das ist genau die gefährliche Mischung, vor der wir immer gewarnt werden. Bevor wir, Colin und ich, beim Brunnen anlangen, sehen sie uns und gehen weiter. Sollen sie also das Dorf verlassen! In der Straße über uns steht Raschid, der Bürgermeister, und gibt uns Anweisungen. Wir sind gehalten, nur das zu tun, wozu er uns auffordert. Bleibt zurück, lasst sie abhauen, ruft er uns zu. Wir beobachten die Jungs, wie sie die Talsohle durchschreiten, aber auf der anderen Seite in das kleine offene Gehöft von Abu Hani gehen, sich dort auf das Mäuerchen setzen und alles ringsum in Augenschein nehmen, vom Boden aufheben, als würden sie morgen kommen und das alles in Besitz nehmen. Und solche Ankündigungen haben sie früher tatsächlich gemacht. Wir gehen schnell rüber zum Hof von Abu Hani und nähern uns den beiden Burschen bis auf 10 Meter. Beide erheben sich, aber anstatt zu gehen, nehmen sie Stellung gegen uns, einer richtet das Gewehr auf uns, der andere schreit „wech! wech!“, was ich mir später als die falsch ausgesprochene Version eines arabischen Wortes für „zurück!“ erklären lasse. Dann beleidigen sie uns und rufen rüber, „Jesus ist schwul“, woraufhin ich mir nicht verkneifen kann, den Kopf zu schütteln und zu erwidern, das sei nicht die richtige Sprache am Sabbat. Wir bleiben stehen und lassen ihnen den Rückzug. Sie tun so, als seien sie ganz cool, aber man kann merken, dass sie sich immer wieder nach uns umdrehen. Ich mache Fotos, in 20 Metern Abstand folgen wir ihnen. Noch einmal wird es kritisch, als sie offensichtlich sauer sind, dass wir sie aus dem Dorf begleiten. Sie stehen vor einer Schar weißer Hühner, richten das Gewehr auf die Hühner und rufen uns zu: Wenn ihr die Hühner lebend sehen wollt, bleibt stehen. Dann sehe ich oben in einem Sattel einen Jeep stehen, etwas blitzt, offensichtlich ein Fernglas, der Jeep bewegt sich, sieht aus wie Armee und ist auch Armee. Kommt langsam einen Feldweg runter, wo sich die Burschen langsam durch die Talsohle auf die andere Hügelseite davon machen, ruhig, denn sie haben nichts zu befürchten. Jetzt sehe ich unten auf der Straße einen zweiten Jeep schnell auf das Dorf zu fahren. Offensichtlich hat Raschid, der Bürgermeister, das palästinensische Verbindungsbüro angerufen, das sich seinerseits an die israelische Armee gewandt hat. Dem Gesetz nach ist die Armee für die Ordnung in diesem Teil des Landes zuständig. Wir sind während der Aktion, die sich zwei Stunden später, wiederholt, indem die Burschen frech und unsicher durch das Dorf im Tal zu ihrem Hügel zurück gehen, per Handy in Verbindung mit den beiden Frauen, Paula und Linda, die bei dem Bürgermeister sitzen und mit Dan, unserem neuen Koordinator in Jerusalem. Geht nicht zu weit aus dem Dorf raus! Geht nicht zu dicht an die Männer ran! Bleibt in Sichtweite und in telefonischem Kontakt! Das sind ihre Anweisungen an uns.
Später sitzen wir bei Raschid und sprechen alles noch mal durch. Es ist unsere erste Lektion in unserer neuen Aufgabe hier im Dorf. Später koche ich eine Gemüsesuppe und decke den Tisch. Wir essen unsere erste Mahlzeit in unserem neuen Zuhause. Dann sitzen und reden lange, Colin aus Schottland, Linda aus Norwegen, Paula aus Schweden und Gottfried aus Deutschland. Der Sternenhimmel scheint wohlwollend durch unsere offenen Fenster. Wann machen wir so was zu Hause, im Dunkeln vor dem Haus sitzen und reden? Das war unser erster Tag in Yanoun.

27. Juli 2008, Sonntag
Checkpoints in den Besetzten Gebieten

Es ist Sonntag Abend. Wir waren an den beiden heiklen Checkpoints, Huwwara und Beit Furik. Huwwara ist einer der Checkpoints, die die Armee rund um Nablus mitten in Palästina errichtet hat. Er gehört mit insgesamt 28 Checkpoints, Straßensperren und Toren zu einem System, mit dem die ganze Stadt Nablus abgeriegelt und aller Verkehr kontrolliert wird. Wir haben auf dem Rückweg 30 Minuten in der Reihe derer gestanden, die die Stadt abends wieder verlassen. Ein junger Mann saß in der Arrestzelle aus Beton, in der die Soldaten Leute bis zu drei Stunden festhalten darf. Wir haben ihm Mut zugesprochen und uns an die Soldaten gewandt. Wir haben auch mit seinem Freund gesprochen: Die beiden gehen täglich hier durch und absolvieren im Nachbarort einen Schwimmkurs. Warum heute? Die Soldaten geben uns keine Auskunft. Aber die Frauen von Machsom Watch kommen und wir übergeben ihnen den Fall.
In Beit Furik hat der Checkpoint die Aufgabe, zwei Ortschaften, eine mit 9.000, die andere mit 3.000 Einwohnern, von ihrem Zugang zu Nablus und anderen Teilen der Westbank abzuschneiden. Hier führt eine Straße, die nur für Siedler bestimmt ist, durch und ringsum auf den Hügeln sind die Außenposten der Siedler auf den Hügeln, die diese Ortschaften, Beit Furik und Beit Dajan, von unserem winzigen Dörflein Yanoun trennen. In die so abgeschnittenen Ortschaften werden nur die Bewohner selber rein gelassen, keine Gäste und Verwandte, auch wenn sie Palästinenser und die eigentlichen Bewohner dieses Landes sind. Unsere Aufgabe ist es, von Zeit zu Zeit bei dem Checkpoint vorbei zu schauen und eventuell den Bürgermeister oder andere Kontaktleute in Beit Furik zu besuchen. Heute bleiben wir jenseits des Kontrollpunktes, setzen uns auf ein paar Autositze und Steine, mit denen ein findiger kleiner Unternehmer einen Laden mit Kaffee und Tee und anderen Getränken aufgemacht hat. Wir schauen zu, wie die Sammeltaxen kommen, die Türen auf gehen und Leute, Männer in Arbeitskleidung und Frauen in Stadtkleidung mit Kindern aus den Fahrzeugen kommen und auf den Kontrollpunkt zu gehen. Wir unterhalten uns mit Taxifahrern. Zwei werden uns besonders vorgestellt, weil der eine zur Hamas, ein anderer zu Fatah hält. Das sei doch schön, dass sie hier gemeinsam Kaffee trinken. Erst abends, als wir die Nachrichten im Radio hören – Internet haben wir hier nicht – wird uns klar, warum die friedliche Nachbarschaft heute Relevanz hat. Jetzt erst verstehen wir, warum Dan aus Jerusalem uns auferlegt hat, alle halbe Stunde anzurufen; damit er uns Bescheid geben kann, wenn in Nablus eine kritische Situation entsteht und wir sofort zurück fahren sollen. Es ging also um den Anschlag im Gazastreifen, bei dem Fatah einen Hamasführer und andere Menschen umgebracht haben und Hamas Vergeltung angedroht haben soll. Wir können uns hier kein genaues Bild machen, sind aber doch froh, dass wir erst abends erfahren haben, dass die Situation angespannt war.

Der Nachmittag
Ich protokolliere nicht den ganzen Tag.
Wir waren im Gottesdienst. Wir waren im Internet Café, wo wir unseren Bericht von gestern an unser Büro in Jerusalem gemailt haben. Und im Yasmeen Hotel, wo wir gut gegessen haben. Insgesamt haben wir 7 Taxen benutzt und viel Geld dafür bezahlt und waren 9 Stunden unterwegs? Wie viel einfacher wäre der Ausflug gewesen, wenn es diese Situation mit der Besetzung dieses Landes nicht gäbe?
Linda, die zurück geblieben war – wir dürfen nie alle gleichzeitig aus dem Dorf gehen! – hat bei den Nachbarn zur Linken geholfen, frisch geerntete Mandeln zu pellen. Die Kerne müssen jetzt trocknen und werden später geöffnet, damit sie die kostbaren Mandeln freigeben.
Zuhause angekommen, hat Linda, die vor der Tür saß, laut gefragt: Habt ihr Brot gekauft? O, das haben wir vergessen! Macht nichts, wir werden schon nicht verhungern. Im Laufe des Abends klopft es zweimal unten an die Tür, wir stürzen oben, wo wir wohnen, in unsere Westen, auf der Treppe in die Sandalen, nur um vor der Tür einmal die Nachbarin von links und einmal die Kinder von rechts jeweils mit Brot anzutreffen, das sie hochhalten und uns schenken wollen. Ich glaube, die Kinder habe ich erschreckt, weil ich so hektisch aus der Tür gesprungen kam. Aber dann haben sie gelacht, wie sie den Wechsel in meinem Gesichtsausdruck gesehen und mein wahrscheinlich falsch ausgesprochenes Dankeschön gehört haben.

Dann sitzen wir und schreiben Berichte, übertragen Fotos auf den Computer oder nehmen uns ein Stück der etwas verwahrlosten Küche vor, die wir Stück um Stück sauber machen wollen. Linda wird später kochen. Es ist ein friedlicher Abend, Esel schreien, Schafe blöken, Kinder rufen und einmal ist ein Auto zu hören.
Das war der zweite Tag in Yanoun.


Mit dem Fahrrad in die nächste Stadt
28. Juli 2008, Montag
Colin und Paula bleiben in Yanoun zurück. Sie machen Besuche bei den Nachbarn.
Linda und ich fahren mit Ghassan, unserem Taxifahrer, nach Burin. Wir hatten noch in Jerusalem gehört, dass die Siedler neue Angriffe auf Burin gemacht hatten. Da ich bei der Übergabe vor einer Woche auch in diesem Dorf war, war es jetzt meine Entscheidung, möglichst bald dort aufzutauchen und mit der Familie zu reden, die wir letztens besucht hatten.

Eine Familie in Burin
Die Familie von Ahmad Souha lebt in einem Haus abseits des Dorfes, am Hang, der das Dorf nach Süden begrenzt. Über ihnen, auf dem Hügel, befinden sich Außenposten einer größeren Siedlung, auf jeder Höhe stehen einige Container, der ganze Höhenzug ist so von jüdischen Siedlern besetzt und die Hirten und Bauern können ihre Weiden und Ölbäume in den höheren Lagen nicht mehr nutzen, weil die Siedler das als ihre Sicherheitszone beanspruchen. Dieses Haus hier, das einzige jenseits der Straße, die auch nur von Siedlern genutzt wird, ist den Siedlern ein Dorn im Auge, sie wollen die Bauern offensichtlich vertreiben. Der Bauer war als junger Mann von der Israelischen Armee aus dem Negev vertrieben worden, ein Beduine. Er hat hier vom Dorf Land gekauft und sich nieder gelassen. Dann kamen die Siedler. Und nun soll er ein zweites Mal vertrieben werden.

Heute war er unterwegs, nach Beduinenart mit seinen Herden und in einem Zelt auf einer entfernten Weidefläche. Seine drei Söhne begrüßen uns, wir sitzen im Garten. Nach einigen Minuten setzt sich die Mutter zu uns. Sie hat 5 Söhne und 4 Töchter groß gezogen. Zwei der Töchter sind noch im Haus, wir kriegen sie nicht zu sehen, aber sie machen uns erst süßen Tee, dann Kaffee, schließlich kommt eine herrliche aromatische Wassermelone. Einer der Söhne bringt die Tabletts und die Teller. Die Gastgeber sind überaus freundlich und das verwirrt uns umso mehr, als die Nachrichten, die wir von ihnen hören, äußerst beunruhigend sind.
Vor einer Woche hatten sie uns von den Siedlern erzählt, die einen Esel umgebracht, 4 Schafen vergiftet und einen Hirten zusammen geschlagen haben. Die Siedler kommen von dem nächsten Außenposten bis zu diesem Haus herunter, Schusswaffen dürfen sie nicht tragen, das hat ihnen die Polizei wohl ausdrücklich verboten, aber Knüppel sind offensichtlich erlaubt.
Diesmal erzählen die Söhne uns von Angriffen auf das Dorf, das wir unter uns und auf der anderen Talseite liegen sehen. Ein Haus ist heute früh abgebrannt worden und eine Rotte von etwa 30 bis 40 Siedlern war gestern den Hang herunter gekommen. Sie haben zwei Hirten angegriffen und mit Knüppeln geschlagen. Aber (israelische) Polizei ist rechtzeitig gekommen und sie mussten sich zurückziehen. Wir verstehen nicht genau, ob das eine gestern und das andere heute passiert ist oder beides gestern je morgens und nachmittags. Später wird Ghassan für uns kleine Interviews übersetzen. Die Familienmitglieder hier sind viel mehr von der Dichte der Angriffe bewegt, als davon, wie alles im Detail abgelaufen ist. Sie wollen von uns eine Kamera kriegen, um die Siedler, wenn sie wieder kommen, damit zu beeindrucken. Wir rufen unser Büro in Jerusalem an, die uns aber an die Israelisch-Palästinensische Menschenrechtsorganisation Betselem verweist. Betselem hat ein Programm, „Zurück Schießen“ genannt, mit dem bedrohte Dorfbewohner mit Kameras ausgerüstet werden; denn wenn sie keine Beweise vorlegen, werden ihre Anzeigen nicht weiter verfolgt. Wir nehmen das Anliegen der Familie auf, Linda telefoniert mit Jerusalem. Währenddessen kriege ich einen Anruf von Abdullah aus Asira, dem nächsten Dorf. Er will uns zu dem betreffenden Haus in Burin bringen.

Das abgebrannte Haus
Zusammen fahren wir dort hin. Das Haus liegt etwas einsam am Dorfausgang. Viele Nachbarn sitzen auf der Terrasse oder stehen vor dem Haus. Der Hausvater sei bei der Polizei, um den Bericht zu unterzeichnen, hieß es. Die Hausfrau ist ins Krankenhaus eingewiesen worden, wegen Gefahr einer Frühgeburt nach dem Schock, sie ist hoch schwanger. Die ganze Familie war nicht anwesend, als der Brand gelegt worden war. Absicht? Eine junge Frau, die Schwester von Abdulla, führt uns durch das Haus. Drei Räume sind ausgebrannt, Schlaf-, Wohnzimmer und Küche. Wir sehen die zerbrochenen Scheiben oder die offen gelassenen kleinen Fensterchen, durch die die Brandbomben geworfen worden sind. Deutlich sind an Decken und Wänden Bündel von verkohlten feinsten Stäbchen zu sehen, offensichtlich das Material, das mit dem Brandstoff zu einer Bombe gebastelt worden war. Am meisten berührt uns das verkohlte Kinderbett. Wenn da ein Kind drin gelegen hätte! Unter der Matratze hatte der Hausvater 10.000 Jordanische Dinar, etwa 9.000 Euro versteckt – die sind jetzt verbrannt. Damit hatte er den Bau eines eigenen Hauses im Dorf bezahlen wollen, das ist jetzt vorbei.
Warum versteckt jemand eine so große Summe Geld unter der Matratze? Weil er hier in den von Israel kontrollierten Gebieten keine Bank findet. Weil Israel nicht bereit ist, für die Sicherung von Banken gerade zu stehen. Und weil der Weg nach Nablus, das von der Autonomiebehörde kontrolliert wird, zu schwierig ist, zu lange dauert. Alle Palästinenser in der Westbank, sofern sie nicht in den A-Gebieten wohnen, machen das so. Es gibt offensichtlich nichts, was in diesem besetzten Land normal läuft!
Den Gang durch das Haus mit den verkohlten Möbeln und dem Brandgeruch breche ich irgendwann ab. Das Kinderbett und die Geschichte von der schwangeren Frau machen mir zu schaffen. Wir machen noch einige Außenaufnahmen, weil unser Jerusalemer Büro, mit dem wir ständig in Verbindung stehen, von uns einen Bericht und Bilder haben will.
Abdullah, den ich letzte Woche bei der Übergabe kennen gelernt hatte, und Ghassan, der uns in diese Dörfer fährt, machen klar, was sie von unserem Programm erwarten: Ein Team von Freiwilligen soll in Burin und Asira wohnen und mit seiner Präsenz einen Schutz darstellen, so wie in Yanoun. Auch das werden wir an unser Büro in Jerusalem weitergeben.
Der Clou dieser Geschichte ist: Vor etwa 10 Tagen hatten wir eine Zeitungsmeldung gelesen, wonach zum ersten Mal ein junger Siedler – Student einer Thoraschule in der Siedlung über Burin – selbst gebastelte Raketen auf palästinensische Ziele abgefeuert hat. Als wir das lasen, wussten wir noch nicht, dass das Dorf Burin heißt, die Siedlungen Bracha und Yitzhar, die in dem Bericht genannt worden waren, über diesem Dorf liegen und wir mit diesen aggressiven Siedlern bald zu tun haben würden.

Was wollen die Siedler?
Erstmal wollen sie die Hänge von Bauern und Hirten frei machen. Dann wollen sie das Tal räumen. Dann wollen sie dieses ganze Land haben, das sie immer noch Samaria nennen und das nie jüdisch war. Sie wollen das Land – aber ohne die Araber, die sie verachten und die sie vertreiben wollen, so wie Abraham in Vorzeiten seine Magd Hagar mit seinem und ihrem Sohn Ismael vertrieben hat.
Über Burin liegt der Berg Garizim, wie er in unserer Bibel heißt. Auf der anderen Seite, unter dem Garizim, liegt das alte Sichem, in römischer Zeit Neapolis, jetzt Nablus genannt. Dort gibt es eine der zwei kleinen Samaritaner-Gemeinden, den Rest eines Völkchens, das vor 2 ½ Tausend Jahren nicht ins Exil nach Mesopotamien geführt worden war und bis heute in Palästina lebt wie die restliche Bevölkerung Palästinas, die hier überlebt haben und deren Existenzrecht erst jetzt von der Rückkehr der Juden in Frage gestellt wird. Der Berg Garizim, von den Juden der nach-exilischen Zeit verachtet, weil die Samaritaner dort ihren Tempel hatten, ist jetzt besetzt und besiedelt – nicht von Samaritanern, sondern von Juden.
Kaum zu erkennen: die Siedlung auf der Bergkuppe

Der Abend
Wir fahren nach Hause, ich setze mich hin und schreibe den Bericht für unser Büro, Linda wählt einige Fotos aus und hängt sie an den Bericht an. Morgen früh müssen wir nach Aqraba laufen und das Ganze aus dem Internet Cafe an unser Büro nach Jerusalem schicken. Ich nehme die Wäsche von der Leine und lege sie zusammen. Colin kocht, Paula sitzt bei den Nachbarinnen, wo sie heute früh Mandelkerne aus der Frucht geschält hat. Die Sonne geht unter. Die Schafe waren unten im Talboden auf den abgeernteten Feldern und sind zurückgekommen. Der Esel ruft über das Tal, die Eselin von der anderen Seite antwortet. Die Abende hier sind besonders schön. Das indirekte Licht taucht alles in kräftige Farben. Wir würden gerne die zweihundert Meter bis zur Höhe laufen und den herrlichen Blick auf das Jordantal und die jordanischen Berge werfen. Aber ein solcher Spaziergang könnte tödlich enden und ist uns strengstens untersagt. Wir denken uns also den schönen Ausblick und begnügen uns mit der friedlichen Abendszene hier in diesem Tal. Hoffentlich bleibt sie friedlich. Das war unser dritter Tag in Yanoun.
29. Juli 08, Dienstag
Heute hatten wir einen ruhigen Tag! Wir hatten Zeit für Frühstück. Zwei Gäste kamen überraschend, von einem Taxifahrer vor unserem Haus abgesetzt, weil der Bürgermeister, mit dem sie verabredet waren, nicht zu Hause war. Nachmittags kamen weitere Gäste, die mit dem Team von Medicines sans Frontieres mitgekommen waren: die neue Psychologin und der Fahrer. Die Ärztin war so lange bei Nachbarn beschäftigt. Offensichtlich ist das Internationale Haus, wie unsere Bleibe hier heißt, bekannt und für Fremde die Anlaufstelle.
Im übrigen haben wir heute insgesamt 5 Familien besucht, einen Obstgarten besichtigt und uns zeigen lassen, wie der Ziegenkäse hier gemacht wird. Abends waren wir zum Abendessen eingeladen.
Linda und ich sind nach Akraba gelaufen. Dort ist die nächste Möglichkeit, das Internet zu benutzen und wir sollten doch unseren Bericht von den Ereignissen in Burin an das Jerusalemer Büro schicken. Es war ein schöner Ausflug, im Internetcafe hat man uns freundlich empfangen („Ihr seid das neue Team?“). Und wir haben natürlich auch die Briefe geöffnet, gelesen und beantwortet, die in unseren Mailboxen lagen, auch die privaten.
Es war bewölkt, nicht zu heiß, abends kam ein frischer Wind auf. Ab und zu konnten wir sehen, wie drüben auf der Straße ein Armeefahrzeug patrouilliert, was uns natürlich sehr beruhigt.
In einem Logbuch würde man schreiben: Keine besonderen Ereignisse.

30, Juli 08, Mittwoch
Auch heute keine besonderen Ereignisse.
6.30 hat mich mein Telefon geweckt. Eine der Frauen von Machsom Watch wollte wissen, wie es auf unsrer Seite aussieht. Sie hat vom Gilo Checkpoint aus angerufen und ich musste ihr erklären, dass ich nicht mehr in Bethlehem bin. Oh, das ist aber schlecht, fand sie.
Sonst war es ein ruhiger Tag.

Nabi Nun
Wir haben einen Ausflug nach Nabi Noun gemacht, einem Hügelchen mit Ausblick auf das Jordantal. Dort steht die Ruine eines Wohnhauses und einer Moschee. Aber es hat Graffiti mit Davidsstern und politischen Losungen in Hebräisch und das deutet auf jüdisches Interesse hin: Es ist die Grabstelle von Nun, dem Vater Josuas. In beiden Traditionen, der in der Hebräischen Bibel und der im Koran, wird Nun genannt, für die Muslime ein Mann Gottes, ein Prophet, für die Juden der Vater des Josua, der das Land erobert hat. Leider endet das erklärte jüdische Interesse an solchen Ortssagen in der Regel mit der Besetzung des Ortes durch Israelis und der Vertreibung der umliegenden palästinensischen Bauern. So rechtfertigen sich auch die ganzen Außenposten der israelischen Siedlung Itamar, die unser Dorf Yanoun umzingeln: Ein frommer Jude aus der Bratslav Chassidim Gemeinde hatte geträumt, Gideon, einer der Richter aus der Vor-Königszeit, liege auf diesen Hügeln hier begraben. Sofort wurde ein Grab ausgemacht und in die Karten eingetragen und die drei umliegenden Hügel besetzt...
Wir haben von Nabi Nun aus die Aussicht genossen: Berglandschaft mit Olivenhainen, die Bauernhäuser von Yanoun; im Osten tief unter uns im Dunst der Mittagssonne das Jordantal und darüber mehr zu erahnen als zu sehen die Berge von Jordanien; in den Bergen nach Süden mehr palästinensische Dörfer und Städte und oben auf den Hügeln Siedlungen und Außenposten – die auch nach israelischem Recht illegal sind, aber von der Armee, die hier das Sagen hat, geduldet werden. Die schöne Landschaft und die hässlichen Zeichen der israelischen Landnahme.


Besuche bei Familien
Wir haben mehr Familien besucht. Wir sind überwältigt von der Freundlichkeit, von der Offenheit, mit der uns die Leute hier begegnen, von der Einfachheit des Lebens und der Stimmigkeit der alten palästinensischen Kultur. Wir sehen Kinder spielen, die Familien, die am Spätnachmittag mit der Mandel-Ernte des Tages vor dem Haus sitzen und das Fruchtfleisch von den Kernen trennen, während die Schafherden unten im Tal weiden. Wir hören von den 6 Generationen, die der Hausvater mühelos aufzählen kann, vom Großvater vom Großvater vom Großvater, der hier schon das zweite Haus gebaut hatte. Wir sitzen im dritten, modernen Haus und trinken süßen Tee mit Minze. Aber in jedem Haus hören wir die Geschichten vom Bruch im Leben der Familien, vom Einbrechen dieses Alptraums der Siedler, die sich über ihnen niedergelassen, die ihr Land weggenommen haben und die ihren Terror gegen die Dorfbewohner ausüben dürfen.
Das sind unsere Tage hier in Yanoun.

Was wir sehen
Und so wird es Morgen und wird Abend und die Woche ist noch nicht zu Ende.
Die Begebenheiten und Besuche wiederholen sich. Wir nehmen Einsicht in die Tagesabläufe von Arbeit und Ruhe, wie sie seit Generationen wiederholt werden. Wir erleben die neue Landnahme und den unterschwelligen Krieg der Siedler gegen die Bauern. Sie machen das Leben für die Dorfbewohner schier unerträglich. Und doch geht es weiter, dieses Leben, mit der Mühsal der Arbeit, den einfachen Freuden, dem Terror, vor dem sie nicht wirklich geschützt sind, und der Hoffnung, die nicht zu sehen ist, wie die Glut der Backöfen, die tagsüber unter der Asche verborgen ruht und jeden Morgen neu entfacht wird und das Brot für den Tag bäckt.
Colin und Paula packen ihre Sachen. Morgen reisen sie ab. Sie werden in Jerusalem Dienst machen und freie Tage haben, bevor sie wiederkommen und uns, Linda und mich ablösen werden. Morgen kommen auch Christian und Audrey, die die nächste Zeit mit uns leben und Wache halten werden. Mit ihnen werden wir dann abends sitzen, den Tag durchgehen und sagen: Wir sehen mit eigenen Augen, was hier vor sich geht, wir hören zu, wir verstehen, aber wir können es nicht fassen.

Sunday, August 10, 2008

Good News

Text Message

01-08-08, 4.05 pm, text message on my mobile: “Hi everyone! Just a quick reminder that I’m on duty this weekend. So call me for emergencies. Thanks, Matilda”

01-08-08, 4.10 pm, Gottfried to Matilda: “Dear Matilda, that’s okay. Could we let you know good news as well? GK”

01-08-08, 4.12 pm, Matilda to Gottfried: “Of course :) I’d love to hear about those! Thanks for pointing that out … Have a great weekend! M”

02-08-08, 10.45 am, Gottfried to Matilda: “Good morning, Matilda! It’s quiet so far in Yanoun. A mare gave birth to a foul. People are receiving us friendly under their grape vine. And hope is alive like the embers used here for the fresh bread after a long night. We are well in Yanoun. AG, LN and GK”

02-08-08, 10.55“Thanks for the hopeful update! Enjoy. M”


(Übersetzung)

1.08-08, 16.05 Uhr. Textnachricht auf meinem Handy: „Hallo, liebe Yanounis! Nur zur Erinnerung, dass ich Dienst habe an diesem Wochenende. Ruft mich an, wenn es Probleme gibt. Matilda.“

1.08.08, 16.10 Uhr. Antwort: „Liebe Matilda, das ist okay. Aber dürfen wir dir auch gute Nachrichten melden? GK“

1.8.8, 16.12 Uhr. Matildas Text zurück: „Natürlich:) Ich würde mich freuen, gute Nachrichten zu hören! Danke für den Hinweis… Ein gutes Wochenende! Matilda“

2.8.08, 10.45 Uhr. Meldung: „Hi Matilda! Es ist ruhig bisher in Yanoun. Eine Stute hat ein Fohlen geboren. Die Leute bewirten uns unter ihrem Weinstock und Hoffnung überlebt, wie die Glut unter der Asche, auf der hier nach dunkler Nacht das frische Brot gebacken wird. Uns geht’s gut in Yanoun. Audrey, Linda und Gottfried.“

2.08.08, 10.47 Uhr, Matilda zurück: „Danke für den hoffnungsvollen Lagebericht. Macht’s gut! Matilda“

(Erläuterung)
Matilda gehört zu unseren vier Koordinatoren in Jerusalem. Sie ist für Öffentlichkeitsarbeit zuständig. Wir haben in Yanoun keinen Internetzugang, so dass die Kommunikation ausschließlich über unsere Handys läuft; und auch da sind wir sparsam und schicken, wenn es sich um einfache Nachrichten handelt, einen Text.

Unsere Gäste bei der Abschiedsparty

24. Juli 2008
Unsre Party
war Dienstag, nachmittags, von vier Uhr an. Wir hatten Tee und Kaffee vorbereitet, kalte Getränke, Kuchen, Nüsse und viel Obst. Wir hatten die üblichen Sorgen der Gastgeber, ob genug von allem vorhanden ist und einer sollte bereit sein, schnell in den Gemüseladen zu laufen und Obst nachzukaufen. Am nächsten Tag sollte die Wohnung dann ganz leer von Vorräten zurück gelassen werden. Aber unsere Gäste waren ganz locker, mit einem Blick haben sie gesehen, was alles auf dem Tisch stand und welche Platte geschont werden musste. Sie haben sich mühelos miteinander oder mit uns unterhalten. Keiner saß allein, die Leute haben sich gegenseitig vorgestellt oder erklärt, woher sie sich kennen. Es lief locker wie ein gut eingeübtes Spiel.


Einige sind leider nicht gekommen:
Pierre Habasch, unser Vermieter, der im anderen Flügel des Hauses wohnt. Ich habe einige Male mit ihm gesprochen. Er ist sehr besorgt über die immer kleiner werdende christliche Gemeinschaft in Bethlehem und trauert seinen wohlhabenden Freunden nach, die das Land verlassen haben. Ich habe auch mit ihm. verhandelt, als der Warmwasserboiler kaputt war; wir haben da entschieden, dass der Boiler jetzt im Sommer nicht gebraucht wird, weil die Solaranlage genug warmes und heißes Wasser liefert. Einmal war ich oben in seiner Wohnung auf einen Tee, als ich ihm den Scheck mit der Miete gebracht habe. (Und Justice, der mich hat hoch gehen sehen, hat es nicht lange ausgehalten und ist hinterher gekommen. Justice lässt keine Gelegenheit für einen Plausch aus und ist immer darauf aus, Leute kennen lernen.) Jedenfalls hatten wir Pierre Habasch eingeladen und er hat gleich gesagt, er könne es wahrscheinlich nicht schaffen. Wir haben uns dann am nächsten Tag von ihm verabschiedet, Justice und ich.

Fuad Giacaman, der Direktor des Arab Educational Institute. Er war schon mein Gast in Blankenfelde und hat Vorträge in Berlin gehalten. Als Nini hier war, waren wir bei ihm zu Hause und haben ihn ganz neu, als Familienvater kennen gelernt. Er repräsentiert sonst gern sein Institut, aber zuhause sitzt er im Sessel, hat ein Enkelchen auf dem Schoß und hört zu, was sein Schwiegersohn und seine Tochter mit uns diskutieren. Unser Programm begleitet er kritisch und mit hohen Erwartungen; er ist einer der wenigen Christen, die sich für dieses Begleitprogramm in Bethlehem verantwortlich fühlen. Und leider konnte er zu der Abschiedsparty nicht kommen.

Das alte Ehepaar aus Al Waladja, Seham und Mundir Sahem, das ich einmal mit dem ganzen Team besucht habe und wo ein Teil des Teams ein zweites Mal war, eingeladen zum Essen. Sie wohnen in einem Haus, das zweimal abgerissen und zweimal wieder aufgebaut worden ist. Das ganze Dorf ist schon einmal umgesiedelt worden. Das war 1948, jetzt wird ihr Baubedarf auf ihrem eigenen Land für die nachkommende Generation eingeschränkt. Nur ein Schlafzimmer plus Küche und Bad sind für Seham und Mundir wieder aufgebaut worden. Gäste empfangen sie im Zelt vor dem Haus. Sie hatten sich so über unsere Besuche gefreut und uns Nüsse und Askadinya angeboten. Leider sind sie dann nicht gekommen und wir sind sicher, dass der Fehler bei uns lag, dass wir ihnen ein Taxi hätten schicken sollen.

Yussuf, Bauunternehmer aus An Nu’man und seine Tochter Naveen, die übersetzen muss, wenn seine Englisch-Kenntnisse nicht ausreichen für die Unterhaltung. Von den Vorjahren kannte ich Yussuf als eher reserviert und genervt von Presse und internationalem Interesse am Geschick seines Dorfes; denn alle Berichte, Dokumentationen und diplomatische Interventionen hatten nichts bewirkt. Aber dieses Jahr waren wir uns näher gekommen. Er hatte uns seine Baufirma gezeigt und erklärt: Zeig mir dein Grundstück, zeig mir dein Geld und ich stelle dir ein fertiges Haus hin. Über meine Beschreibung des Reihenhauses aus Fertigbauteilen, in dem ich meine alten Tage verbringen will, hat er nur den Kopf geschüttelt.

Der Ladenbesitzer, unser Nachbar, der immer Angst hatte, wir könnten Sachen, die er in seinem Laden hatte, bei anderen kaufen. Wir haben ihn dann unauffällig in unsre Plastikbeutel gucken lassen und die Kleinigkeiten, die uns gefehlt haben, bei ihm nachgekauft. Aber wir haben ihn drei oder viermal am Tag gegrüßt, immer wenn wir auf dem Weg in die Stadt oder zu den Flüchtlingslagern bei ihm vorbei kamen. Kommt auf einen Tee rein, hat er gerufen und wir haben gesagt: Ein andermal, jetzt müssen wir da und da hin. Und prompt hat er uns auf dem Rückweg gefragt, wie es da und da war und ob wir jetzt Zeit hätten. Zweimal habe ich mit ihm einen Tee getrunken. Einmal hat er für mich Brot besorgt, weil ich geklagt hatte, dass ich umsonst in der Manger Street gewesen sei, alle Bäcker hätten schon zugemacht. Warte 10 Stunden – was er mit 10 Stunden meint? 10 Jahre? Nein, du meinst 10 Minuten? Ja, natürlich, ach mein English ist so schlecht! Es hatte dann wirklich nur 8 Minuten gedauert und ich hatte Brot. Er konnte nicht zur Party kommen. Aber ich habe ihm später am Abend dieses Foto gebracht, das hat ihn doppelt gefreut, weil es einen kleinen Ausschnitt von seinen Enkeln zeigt und weil es gezeigt hat, dass ich nicht beleidigt war.

Marwan von Holy Land Trust kam am nächsten Tag, als wir schon am Packen und Putzen waren. Er war unser Führer in die Dörfer mit den Demonstrationen in Um Salomone and Al Khadr, hat uns zu den Bauern in ihren Feldern gebracht, die dicht an Israels neuer Grenze lagen, hat uns Kontaktleuten vorgestellt und ist überhaupt einer der verlässlichen Partner des Programms. Er war, als er am Mittwoch kurz vorbei kam, mächtig unter Druck, weil er nächste Woche mit dem Wiederaufbau eines der abgerissenen Häuser beginnt und Baumaterial, Helfer beim Bauen und vor allem die Finanzen zusammen kriegen muss. Die Familie ruft jeden Tag an und will sich vergewissern, dass er sein Wort halten und den Wiederaufbau wirklich durchführen wird. Marvan gehört zu den vielen jungen Palästinensern, die durch die israelischen Gefängnisse gegangen sind und dabei eine gewisse Furchtlosigkeit und Geringachtung israelischer Machtbezeugungen entwickelt haben. Wir haben gesehen, wie er hart an der Grenze der Provokation mit den Offizieren der Armee verhandelt hat, wenn die Demonstranten verhaftet hatten.


Die gekommen waren:
Clemence, Arabisch-Lehrerin, wohnt direkt an der Mauer. Die israelischen Soldaten können ihr vom Wachturm aus in die Zimmer gucken, sie hat alle ihre Felder auf der Jerusalemer Seite der Mauer verloren, einen Teil des Gartens, auf dem nun die Mauer und ein kleines Sträßchen, Zugang zu dem Kloster, das sonst ohne Eingang von Bethlehem aus gewesen wäre, gebaut worden sind. Wir sind Clemence immer freitags begegnet, wenn wir mit den Caritas-Schwestern in einer Prozession dreimal entlang der Mauer den Rosenkranz gebetet haben. Aber wir haben Clemence auch zuhause besucht. Sie ist erst seit einem Jahr Witwe und wird nicht gut damit fertig. Sie hat uns auch ihre Vorstellung über eben die Gebetsprozession an der Mauer dargestellt. Wir haben von ihr einmal mehr gelernt, wie viel mehr Gebet sein kann, als der Beobachter von außen erkennen kann.

Ghassan, der uns Battir gezeigt und uns in sein Haus eingeladen hat. Von keinem anderen haben wir so deutlich gespürt, was Land für die Palästinenser bedeutet: Land, das ihre Vorväter in Terrassen angelegt, bepflanzt geerntet, wo die Frauen den Männern zu Essen gebracht und bei der Ernte geholfen haben; Land, das viele Generationen genährt und Leben geschenkt hat. Battir, ein wunderschönes Dorf. Es hat einen eigenen Absatz im Israelisch-Jordanischen Vertrag von 1948: Die israelische Eisenbahn darf in der Talsohle durchfahren und die Bauern dürfen ihr Land beiderseits der Talsohle bearbeiten. Aber zwischen den beiden Kriegen (48 und 67) sind dort 46 Dorfbewohner von israelischen Soldaten erschossen worden. Das Tal, grün und fruchtbar, ist immer noch schön, auch wenn gerade ein Zug durchfährt. Es ist der Zug von Tel Aviv nach Jerusalem. Er fährt allerdings, ohne in Battir anzuhalten und Passagiere aufzunehmen. Einen Bahnhof gibt es seit 48 nicht mehr. Zu unserer Party war Ghassan gekommen, um uns Lebewohl zu sagen.

Mohamed aus Al Khadr, der in Griechenland sein Ingenieurdiplom erworben hat, der in Al Khadr im Stadtrat ist, der demnächst ein Restaurant eröffnen will und der uns eine Kostprobe seiner Kochkunst in seinem Haus vorgeführt und einen schönen Abend mit seiner Familie und anderen Lokalpolitikern arrangiert hatte. Der Stadtrat ist verzweifelt, nicht nur raubt der Bau des Sperrzauns 90 % des Landes von Al Khadr, 17 Hausbesitzer haben eine Anordnung erhalten, ihr Haus abzureißen, es stört Israels Sicherheitsbedürfnis, das heißt hier im Palästinensergebiet: die Sicherheit der Straße zu den illegalen Siedlungen. Mohamed war mit anderen Leuten aus dem Stadtrat und dem Bürgermeister und unserem Team in diesen Feldern, die zur Zeit noch zugänglich sind und hat uns dort ein Picknick serviert. Jetzt war er gekommen, um zu sehen, wie wir in Bethlehem gewohnt haben und zu sagen, dass wir auch das nächste Team zu ihm schicken dürfen.

Gabi, einer unserer Taxifahrer, der eine ganz gute Übersicht haben muss über unsere Treffen bei NGOs, über Einsätze in Konfliktgebieten und darüber, wann wir zu müde waren, um eine größere Strecke zu laufen. Gabi war nicht gut drauf, sein Taxi macht es nicht mehr lange und er hat noch nicht das Geld zusammen, um ein neues zu kaufen. Finstere Worte von Auswanderung, ein unter Christen umstrittenes Stichwort, kamen über seine Lippen. Und Justice hat ihn nach draußen begleitet, als er ging, um ihm Mut zuzusprechen, wie ein afrikanischer Pfarrer das eben tut.

Suleiman Aloussi, Antiquitätensammler, der mich beraten sollte, wie ich alte arabische Kalligraphien auftreiben kann, der mich zu seinem Onkel, dem Schildermaler (Calligrapher) bringen wollte. Weil ich dann, eine Woche später, Suleiman nicht finden konnte, habe ich einen Nachbarn gefragt, der hat Suleiman aus seinem Haus raus gerufen; Suleiman hat gelacht und gesagt, jetzt ist es verkehrt gelaufen, das ist mein Onkel, der Schildermaler, der dich jetzt zu mir gebracht hat. Aber die alten Kalligraphien muss ich in Ägypten suchen, fanden die beiden, in Bethlehem gibt es keinen Markt für so was, kein Geld für kostbare Antiquitäten.

Jamal und Ahmed aus Beit Fajjar, die wir am vorletzten Tag kennen gelernt haben. Sie haben uns die berühmte Stadt der Steinbrüche und Steinmetze gezeigt. Die ganze Industrie dort ist gefährdet, weil Israel keine Maschinen mehr durch den Zoll lässt, bis die Steinmetzmeister den Vertrag unterschreiben, der Israel das Export-Monopol und die Dumpingpreise sichert. Die beiden haben die Steine am Haus unseres Vermieters betastet und beschaut und die Familie genannt, die sie zugeschnitten hat. Jamal und Ahmed sind dabei, die junge Generation von Beit Fajjar auf die Universitäten zu schicken, um sie unabhängig von der gefährdeten Industrie der Steinbrüche zu machen. Die beiden haben mir auch das Versprechen abgenommen, das nächste Team gleich am Anfang ihrer Zeit zu ihnen nach Beit Fajjar zu schicken.

Majdi, Besitzer des Souvenirladens, der alle Ausländer, die einmal an seinem Laden vorbeikommen, festhält und zu seinen Freunden macht. Der uns zu sich nach Hause zum Essen eingeladen und für jeden von uns heraus gearbeitet hat, was wir an Geschenken nach Hause schicken und bei ihm kaufen müssen. Majdi hat selten übersehen, wenn wir an der Ecke Manger Street und San Antonio Road abgebogen sind. Er hat uns gerufen, auf einen Tee in seinen Laden zu kommen, oder er ist uns entgegen gekommen und hat gefragt, ob es uns auch wirklich gut geht. Er ist ein Meister der Kunst, Freundschaft und Geschäft zu verbinden.

Rianne und Sara, Freiwillige vom Alternativen Informations-Zentrum, mit denen wir oft zusammen waren, dort im AI Café oder in Oush Grab, wo wir die Versuche der Settler, das Gelände, auf dem ein Freizeitpark und ein Kinderkrankenhaus entstehen sollen, konterkariert haben, indem wir Parties und kleine Spiele-Feste veranstaltet haben. Rianne ist Holländerin, mit ihr haben Justice und ich Afrikaans gesprochen. Sara ist Italienerin, spätestens wenn sie das Handy ans Ohr nimmt und „Pronto“ ruft, wird das klar. Beide sind engagiert und zeigen auch Interesse an unserem Programm. Hier waren sie, um gute Freunde zu verabschieden.

Eli, eigentlich Elijah, der andere Taxifahrer, der unser Wohl und Leid geteilt, der uns an den Straßensperren vorbei über Feldwege und durch Olivenhaine gefahren hat, damit wir an der Demonstration in Umm Salomone teilnehmen konnten. Den wir anrufen und fragen konnten, wie wir schnell und billig da und dorthin kommen könnten und der, wenn er selbst nicht fahren konnte, uns verlässliche Taxifahrer geschickt hat, mit denen wir nicht über Preise reden mussten, weil er sie vorher instruiert hatte. Einmal, am Anfang habe ich ihn angerufen: „Eli, du musst mich nach Hause bringen, ich weiß aber nicht, wo ich bin“. „Gib das Handy dem Jungen, der dort so rumschreit“, hat er gesagt und meine Not gelöst. Eli, Christ, engagiert, gut informiert und uns freundschaftlich zugetan, eine Erholung im Stress eines engen Tagesprogramms.

Daniel Munoz Rojas vom International Committee of the Red Cross, bei dem wir zweimal gesessen und über die Verwendbarkeit unserer Beobachtungen am Checkpoint beraten haben. Er leitet die Zweigstelle des ICRC in Bethlehem und hat uns unter anderem über die Arbeit des Roten Kreuzes mit palästinensischen Gefangenen in Israelischen Gefängnissen erzählt. Das konnten wir mit Geschichten vergleichen, die wir ständig von Palästinensern gehört haben, die einige Jahre dort zugebracht haben. Daniel war einer der Gesprächspartner, bei denen wir das Gefühl hatten, unsere Arbeit wird auch von großen Organisationen geschätzt. Beim zweiten Besuch waren wir eingeschlossen, weil alle anderen Mitarbeiter gegangen waren. Daniel musste aus dem Fenster klettern und versuchen, im Nachbarhaus einen Schlüssel zu finden. „Gefangenenbefreiung“ haben wir das genannt.

Und dann gab es einige Freunde, die wir gar nicht erreicht hatten, die vielleicht im Ausland waren oder auf Dienstreisen, wo sie nicht gestört werden wollten. Wir hätten noch viel mehr einladen können.
Suleiman al Hamri, Leiter der Abteilung im Innenministerium der Autonomiebehörde, die mit Nichtregierungsorganisationen arbeitet. 550 davon gibt es im Gebiet von Bethlehem. Suleiman war sehr streng und dogmatisch in der Beurteilung dieser Organisationen, was ihre politische Zielsetzung betrifft. Alles, was auf eine Erleichterung der gegenwärtigen Situation ausgerichtet ist, ist für ihn „Normalisierung“ und verhindert das eine große Ziel, die Okkupation anzuprangern und zu beenden. Als wir bei Suleiman zu Hause waren und ihn als Gastgeber kennen gelernt haben, fanden wir einen hingebungsvollen Vater und gebildeten Gesprächspartner. Leider haben wir uns dann nicht mehr vin ihm verabschieden können.

Die „Party“ selbst, von vier Uhr nachmittags bis zum frühen Abend war für uns alle schön und schmerzlich. Wir haben empfunden, dass wir in dieser kurzen Zeit auch bei nur zufälligen Begegnungen gute Freunde gefunden haben. Von ihnen haben wir kritische Fragen zu unserer Arbeit gehört: Könnt Ihr was an der Politik des Wegschauens der Europäer ändern? Wollt Ihr wiederkommen? Könnt Ihr unsere Mutlosigkeit verstehen? Könnt ihr uns Mut machen? Vor allem aber haben wir dieses Gefühl der Freundschaft und Zusammengehörigkeit empfunden. Der Satz darüber, dass unsre Welt klein geworden ist und das Unrecht in einer Region ein Unrecht an der ganzen Welt ist, ein Schmerz, der einem einzigen Volk zugefügt wird, der internationalen Gemeinschaft weh tut – wir haben diesen Satz als ein starkes Gefühl in uns wachsen sehen. Wir gehen von Bethlehem weg und nichts hat sich zum Besseren gewendet. Trotzdem glauben wir, dass das Ende des Leidens für die Palästinenser kommt. Wir hoffen, dass das berühmte Licht am Ende des Tunnels bald sichtbar wird.

Nachtrag, 23. Juli 08
Heute haben wir Bethlehem verlassen. Im Checkpoint, schon auf der Jerusalemer Seite haben wir einige der Arbeiter getroffen, die wir von den morgendlichen Checkpoint Watches kennen. Sie sind stehen geblieben, ihre müden Gesichter freundlich auf uns gerichtet, ohne sich um die israelischen Wachleute zu kümmern: Masa lkher! Masa nnur! Kiif haalak? Mabsuu tiin ilhamdilla! Geht ihr weg? Ja, unsere Zeit ist um. Das ist schlecht! Aber danke, dass ihr da wart. Und die Männer, die uns doch eigentlich fremd sind, haben da einen Augenblick lang traurig gestanden. Dann haben sie wiederholt: Also, Dankeschön! Shukran! Wa ma’i ssalaame! Ma’i ssalaame! Und uns war ganz wehe, mit dem grauenhaften Checkpoint im Rücken.